In Berlin trafen sich gestern über 600 Teilnehmer, so viele wie noch nie zuvor, beim diesjährigen Arbeitgebertag Zeitarbeit des Bundesarbeitgeberverbandes der Personaldienstleister e.V. (BAP). In entspannter Atmosphäre tauschten sich die Verbandsmitglieder untereinander und mit den interessanten Gästen aus Politik und Wirtschaft über die Branche aus. Wenige Tage vor der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament war aber auch die gegenwärtige und zukünftige Rolle Deutschlands in Europa und die Position der Europäischen Union in der Welt ein stark diskutiertes Thema.

In seiner Begrüßungsrede richtete BAP-Präsident Sebastian Lazay einen leidenschaftlichen Wahlappell an die Gäste, denn „wir dürfen die EU nicht den Populisten und EU-Gegnern überlassen, die in nationalen Egoismus zurückfallen wollen. Die EU ist nicht nur der Garant dafür, dass es zwischen ihren Mitgliedsstaaten seit mehr als 70 Jahren keine Kriege mehr gegeben hat, sondern sie ist auch wirtschaftlich ein Erfolgsmodell.“ Als Exportnation profitiere Deutschland maßgeblich von der EU und erhalte hierdurch Vorteile, die ein einzelnes Land nie erreichen könne. Dabei sei die Europäische Union längst nicht perfekt, so Lazay: „Beim Thema Bürokratie beseht unbestritten Verbesserungsbedarf. Hier wäre ein ‚Weniger‘ deutlich besser.“ Dies würden die jüngsten Beispiele der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und der A1-Bescheinigung für die Mitarbeiterentsendung ins EU-Ausland erneut aufzeigen. Lazay plädierte sowohl aus humanitären wie auch aus wirtschaftlichen Gründen entschieden für ein weltoffenes Europa, denn ohne Migration würde das Angebot an Arbeitskräften angesichts der alternden Gesellschaft allein in Deutschland bis zum Jahr 2060 um rund 16 Millionen Personen schrumpfen. Eine zentrale Rolle bei der Integration nehme dabei bereits heute die Zeitarbeit ein, bekräftigte Lazay: „Die Zeitarbeitsbranche beschäftigt die meisten Ausländer. Deswegen sprechen wir uns klar für Zuwanderung aus.“

Bettina Schaller, Präsidentin der World Employment Confederation – Europe (W.E.C.-Europe), dem Verband der Personaldienstleister auf Europäischer Ebene, übermittelte Geburtstagsgrüße an den BAP von allen 28 WEC-Europe Mitgliedsstaaten. In ihrem Vortrag blickte Schaller nicht nur auf wichtige Meilensteine der Geschichte der Zeitarbeit in Deutschland in den letzten 50 Jahren zurück, sondern warf zugleich einen Blick auf die Gegenwart und Zukunft der Branche aus europäischer Perspektive. Dabei würden die erheblichen Restriktionen der Rahmenbedingungen für die Zeitarbeit in Deutschland durch den Gesetzgeber für Verwunderung im Ausland sorgen. „Aufgrund der wichtigen Rolle der Zeitarbeit für einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt“, machte Schaller deutlich, „ist dies nicht nachvollziehbar.“ Denn die Branche schaffe nicht nur neue, sichere und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, sondern trage zum Wohlstand bei und bietet Expertise in allen Bereichen, die für den Arbeitsmarkt in Deutschland von Relevanz seien.

Weiterer Programmpunkt des Arbeitgebertages, der von der Finanzjournalistin und ARD-Börsenexpertin Anja Kohl moderiert wurde, war der Vortrag von Sigmar Gabriel MdB, Bundesaußenminister a.D., über die Gegenwart und die Zukunft Europas in Politik und Wirtschaft. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich nach fast 600 Jahren Europazentriertheit die Handels- und Machtachse zunehmend vom Atlantik in den Pazifik verschiebe, müsse „Europa seine Rolle in der Welt neu definieren und mehr Verantwortung übernehmen“, forderte Gabriel. Dadurch würde auch das deutsche und europäische Wertschöpfungsmodell grundlegend in Frage gestellt. Wenn Deutschland nicht aufpasse, „werden wir bald nur noch verlängerte Werkbank für digitale Datenplattformen sein.“ Die weltweite Digitalisierung würde dabei nicht nur dazu führen, dass alternative Arbeitsformen immer stärker um sich greifen, sondern „die Grundlage der klassischen Beschäftigungsverhältnisse mit Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie dem Lohn als Bemessungsgrundlage eruieren werden“. Dies habe auch erhebliche Auswirkungen auf die künftige Ausgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Das Land, betonte Gabriel, werde künftig noch stärker in Europa investieren müssen, sei es für den Ausbau der Künstlichen Intelligenz oder Projekte zum gemeinsamen Grenzschutz auf dem Kontinent.

Am 70. Jahrestag des Grundgesetzes machte Wolfgang Bosbach, Rechtsanwalt und langjähriger Innenexperte des Deutschen Bundestags, in seiner Rede deutlich, welche wirtschaftliche Kraft Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten entfaltet habe. Denn in 63 Jahren habe Konjunktur geherrscht und lediglich in sieben Jahren eine Rezession. Doch „wir müssen aufpassen, nicht den Maßstab zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum und der sozialen Stabilität zu verlieren. Wir können nur das für Sozialleistungen ausgeben, was auch erwirtschaftet wurde“. Gerade vor dem zunehmenden Einfluss von rechts- und linkspopulistischen Kräften habe Bosbach die Sorge, dass Deutschland „das hohe Maß an politischer und wirtschaftlicher Stabilität verloren gehen könne und dies mitten in einer Zeit, in der sich die Welt radikal verändert.“ Sowohl in der Gegenwart wie auch in der Zukunft könne Deutschland seine Interessen dabei in einer starken Gemeinschaft wie der EU am besten vertreten. Doch Bosbach bekräftigte, dass bei allen berechtigten wirtschaftlichen Interessen „der Wesenskern Europas nicht der europäische Binnenmarkt ist, sondern ‚Nie wieder Krieg‘. Es wäre eine Tragödie, wenn dieser Gedanke an Bedeutung verlieren würde.“

Gleich mehrere Gründe fand Valerie Holsboer, Vorstand Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit, um im Namen der größten sozialen Behörde Europas zum 50-jährigen Jubiläum der Verbandsarbeit in der Zeitarbeit zu gratulieren. Neben dem gesellschaftspolitischen Engagement, das der BAP und die gesamte Branche zeigten, würdigte Holsboer die Integrationsleistung der Zeitarbeit. Sie sei ein wichtiger Partner, um auch Bewerbern, die schwierig in Beschäftigung zu bringen seien, doch einen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu bieten. Zudem sprach sie der Zeitarbeit ihre Hochachtung dafür aus, dass sie trotz der enormen Regulierungen, welcher die Branche unterworfen sei, „alle Herausforderungen immer angenommen hat. Hut ab vor ihrer Durchsetzungskraft und ihrem Gestaltungswillen!“ Die Personaldienstleister seien für die Bundesagentur für Arbeit aber auch als volkswirtschaftliches Fieberthermometer von großer Bedeutung, da die Branche der beste Frühindikator für die konjunkturelle Entwicklung im Land sei.

Den Abschluss des diesjährigen Arbeitgebertages Zeitarbeit bildete eine Diskussion von Anja Kohl mit Kai Diekmann, langjähriger Herausgeber der Bild-Zeitung und Inhaber einer Social-Media-Agentur, zu den Auswirkungen der weltweiten digitalen Transformation. Diekmann brachte zum Ausdruck, dass die Veränderungsgeschwindigkeit so hoch sei wie nie zuvor in der Welt. Mit der Digitalisierung sei eine „völlig neue, eine 2. Welt geschaffen worden, in der irdische Gesetze nicht gelten und ein Faktor wie Entfernung keine Rolle mehr spielt.“ Es stünde nicht weniger als ein Paradigmenwechsel an, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben habe.

Im Rahmen des Arbeitgebertages hatte der BAP seine Mitglieder zudem zu einer HR-Lounge zum Thema „Mehr Bewerber durch Google for Jobs?“ eingeladen. Henner Knabenreich, Geschäftsführer der knabenreich consult GmbH und meinungsführender Experte auf den Gebieten Personalmarketing und Employer Branding, berichtete dazu aus der Pressekonferenz von Google Deutschland, in welcher einen Tag zuvor in Berlin der offizielle Startschuss für diesen neuen Stellensuchdienst gegeben wurde. Inwiefern dies eine Recruiting-Revolution für den deutschen Jobbörsenmarkt bedeutet und weshalb auch die Personaldienstleistungsunternehmen sich damit vertraut machten sollten, verdeutlichte Knabenreich praxisnah.

 

Im Foto: Sigmar Gabriel, Bettina Schaller, Kai Diekmann (v.l.), Fotograf: R. Sablotny/T. Rücke

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