Der „Weiße Stier vom Humboldthain“ war eine überlebensgroße Marmorskulptur, die der Rixdorfer Künstler Professor Ernst Moritz Geyger (1861 bis 1941) im Jahr 1901 erschaffen hat. Geyger war Bildhauer, Medailleur, Maler und Radierer. Er schuf zahlreiche, teils auch parodierende Tierdarstellungen. Seine rund 4 Meter lange und etwa 2,5 Meter hohe und stark naturalistisch gestaltete Stierskulptur wurde auf einem kleinen Hügel vor der Großen Wiese im Berliner Humboldthain aufgestellt. Schnell avancierte das Kunstwerk zu einem beliebten Treffpunkt.

Über den Verbleib des Stieres, der 1945 in den letzten Kriegstagen zerstört wurde, war nichts bekannt. „Für mich gab es keinen Zweifel, dass die Reste der Skulptur noch irgendwo sein müssten, und so ging ich – angestachelt durch einen kürzlich im Weddinger Brunnen-Magazin erschienenen Beitrag – auf die Spurensuche“, sagt Dietmar Arnold, Vorsitzender des Vereins Berliner Unterwelten. Er recherchierte im bpk-Archiv nach alten Fotos und wurde fündig. Die Bildunterschrift einer Aufnahme von Friedrich Seidenstücker aus dem Jahr 1930 gab den entscheidenden Hinweis: „Humboldthain – 1930: Stier (Geyger), zerstört, an derselben Stelle vergraben!“ Diese Angabe schien Arnold und seinem Team schlüssig, da Marmorbruch in der Kriegszeit als mehr oder weniger wertlos erachtet wurde und ein „Recycling“ deshalb eher unwahrscheinlich war. „Wir gingen also von der Arbeitshypothese aus, dass die Reste des Stieres im Zuge der Neuanlage des Humboldthains ab 1948 einfach verbuddelt worden sind“, so Arnold.

Mitte Februar 2022 führte der Geophysiker Gerd Plaumann im Auftrag des Unterwelten Vereins geophysikalische Erkundungen im Zielgebiet durch. Die Auswertung dieser zerstörungsfreien Bodenuntersuchungen ergab konkrete Hinweise auf den ehemaligen Aufstellungsort der Skulptur und auf mehrere Bodenanomalien in deren Umkreis. Archäologin Claudia M. Melisch wurde mit der weiteren Sondierung der Fundstelle betraut. Dies geschah in Abstimmung mit dem Bezirksamt Mitte und dem Landesdenkmalamt von Berlin. Schon in der zweiten Sondage entdeckten Melisch und Plaumann Ende März in relativ geringer Tiefe Teile der verloren geglaubten Skulptur.

Seit dem gestrigen Montag werden der etwa drei Tonnen schwere Stierkorpus und dessen nähere Umgebung von Melisch und Helfern des Berliner Unterwelten Vereins freigelegt.

Claudia M. Melisch zur archäologischen Herausforderung/Bedeutung:

„Dieser Fund ist sehr bewegend. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, den Stier zu finden und ihn den Berlinerinnen und Berlinern wiederzugeben. Wer hätte denn wirklich geglaubt, dass er dort noch liegt! Dass wir dieses Kunstwerk nach so langer Zeit bergen dürfen, birgt eine große Verantwortung. Natürlich wollen wir den Stier nicht weiter beschädigen. Man muss sich vorstellen, welchen massiven Einwirkungen die Skulptur bereits ausgesetzt gewesen ist. Im Moment sind wir einfach dankbar und glücklich, dass wir in diesen dunklen Zeiten so etwas Schönes erleben dürfen.“

Was passiert nun mit dem weißen Stier?

Für Dietmar Arnold ist die Sache klar: „Ich wünsche mir, dass der ‚Weiße Stier‘ als altes Wahrzeichen im Humboldthain bleibt, an seinen Stammplatz zurückkehrt und wieder zum beliebten Treffpunkt für die Weddinger Bevölkerung wird. Ein archäologisches Fenster könnte ich mir vorstellen, das mit einer Mahnung versehen wird, die daran erinnert, wie lange es braucht, um Kriegsfolgen aufzuarbeiten, sofern das überhaupt geht. An der kriegsbeschädigten Marmorskulptur jedenfalls sind solche Verletzungen gut ablesbar.“

Von admin