Festveranstaltung 100 Jahre Handelsverband DeutschlandFestveranstaltung 100 Jahre Handelsverband Deutschland

100 Jahre Handelsverband Deutschland HDE-Präsident Sanktjohanser fordert faire Digitalisierungschancen für den Mittelstand

Bei einem Festakt mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 100-jährigen Verbandsjubiläum des Handelsverbandes Deutschland machte HDE-Präsident Josef Sanktjohanser deutlich, dass in Zeiten der Digitalisierung insbesondere die mittelständischen Händler auf faire Wettbewerbsbedingungen angewiesen sind.
Der Verband fühle sich deshalb in der Vergangenheit genauso wie in der Zukunft den Werten Solidarität, Fairness und Freiheit verbunden. In der Gegenwart sei ein starkes und geeintes Europa zur Durchsetzung dieser Werte unerlässlich.

“Besonders der Mittelstand fühlt sich schnell abgehängt, wenn er im direkten Wettbewerb mit der ungeheuren Marktmacht globaler Online- Riesen steht“, so der HDE-Präsident. Ziel müsse es sein, dass alle Unternehmen im digitalen Handel ihre Chance bekommen und erfolgreich tätig sein können. Dafür seien klare ordnungspolitische Leitplanken notwendig. „Im globalen Wettbewerb kann nur ein starkes, geeintes Europa Fairness und Freiheit garantieren“, so Sanktjohanser weiter. Der HDE setze deshalb auf ein Europa der Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital.

Dabei steht der Verband heute genauso wie vor 100 Jahren für alle Betriebsformen und Standorte – vom Mittelstand bis zum Weltkonzern und vom stationären Handel bis hin zum Online-Handel. „Eine gemeinsame Stimme für alle, das ist seit seiner Gründung für den HDE die Maxime seines Handelns“, so der HDE-Präsident.

In Erinnerung an den Verbandsgründer kündigte Sanktjohanser die Schaffung eines Heinrich-Grünfeld-Preis des Deutschen Handels an. Dieser soll künftig an herausragende Persönlichkeiten oder Institutionen verliehen werden, die sich in besonderer Weise um den Einzelhandel und sein Ansehen in der Gesellschaft verdient gemacht haben.

Der Handelsverband Deutschland (HDE) ist die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels. Insgesamt erwirtschaften in Deutschland 300.000 Einzelhandelsunternehmen mit drei Millionen Beschäftigten an 450.000 Standorten einen Umsatz von über 500 Milliarden Euro jährlich.

 

Rede des Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 100 Jahre Handelsverband Deutschland :

 

„Ein Geschäftsmann darf kein Bureaukrat sein“, sagt Thomas Mann in den „Buddenbrooks“. Vermutlich würde weder der Geschäftsmann noch der aufgeklärte Ministeriale widersprechen, sonst hätten beide ihren Beruf verfehlt.

Thomas Mann lässt seinen Thomas Buddenbrook dann fortfahren: „Ich habe stets das Bedürfnis, den Gang der Dinge mit Blick, Mund und Geste zu dirigieren […]. Aber das kommt leider allmählich aus der Mode, dies persönliche Eingreifen des Kaufmannes […].“

Ich glaube, die Buddenbrooks wären mit dem Anblick von diesem Rednerpult ganz zufrieden gewesen. Ein Saal voller Unternehmer, die vor Ort und gemeinsam im Handelsverband Deutschland den „Gang der Dinge“ gestalten! Der HDE bringt Sie alle unter ein Dach. Oder besser gesagt: heute Abend unter das Glasdach des Schlüterhofs hier im Deutschen Historischen Museum – Kleinbetriebe und Mittelständler, genauso wie die ganz Großen.

Das macht Ihre Stärke aus. Quer durch alle Branchen und Betriebsgrößen ist Ihr Verband eine starke Stimme für den Handel. Deswegen das Wichtigste vorab: Alles Gute zum 100. Geburtstag und herzlichen Dank für die Einladung!

Ich vermute, es gibt wenig, was es bei Ihnen nicht zu kaufen gibt. Bereits vor 100 Jahren schrieb Gustav Stresemann über die Konsumtempel der Weimarer Republik, „dass man anstatt der einen Cravattenschleife, die man anfänglich kaufen wollte, mit einem ganzen Bündel der verschiedenartigsten Sachen beladen ist.“

Auch wenn heute Abend – wegen Feierlichkeiten vorübergehend geschlossen – der Umsatz vermutlich etwas stagniert: Der Einzelhandel trägt maßgeblich zu Wohlstand und Beschäftigung bei. Sechzehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 520 Milliarden Euro Umsatz und rund drei Millionen Jobs, davon mehr als zwei Drittel in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung – das sind wirklich beachtliche Zahlen. Und darauf dürfen Sie zu Recht stolz sein.

Diese Zahlen sind das Ergebnis Ihres Handelns. Und das im wörtlichen, wie im übertragenen Sinn. Auf Ihrer Webseite haben Sie den Selbstanspruch an Ihr Handeln in einigen Schlagworten zusammengefasst: wirtschaftlich, innovativ, selbstbestimmt, lokal. Und: verantwortlich. Über Verantwortung will ich heute Abend sprechen.

Und damit bin ich wieder bei Thomas Mann. Vor einigen Monaten stand ich in einem Wohnzimmer, 230 Kilometer nordwestlich von Berlin. Lübeck, Mengstraße 4, Altbau, Rokoko-Giebel: das Buddenbrookhaus.

„Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!“

Das ist die oberste Maxime, die Johann Buddenbrook seinen Nachfolgern mit auf den Weg gibt. Ich kann nicht erkennen, dass sie heute weniger aktuell ist als vor 100 Jahren – jedenfalls klingt sie ganz gesund!

Die „Buddenbrooks“ haben wie keine andere literarische Darstellung das Bild des „ehrbaren Kaufmanns“ geprägt. Standfest, umsichtig, ein gut kalkulierender wie auch berechenbarer Geschäftspartner. Aber auch jemand, der Verantwortung für das Gemeinwesen übernimmt.

Verantwortung bedeutete für den Gründungsvater Ihres Verbands, Heinrich Grünfeld, zunächst: Verantwortung für die eigenen Mitarbeiter. Dazu gehörte eine auskömmliche Bezahlung. Dazu gehörten aber auch Kantinen und eine Hilfskasse für die Hinterbliebenen verstorbener Beschäftigter. Nur die „Aussteuer-Stiftung“ erscheint aus heutiger Sicht nicht mehr ganz zeitgemäß.

Es ist ein glücklicher Zufall, dass wir am 10. April zu dieser Feierstunde zusammenkommen. Heute vor 154 Jahren wurde Heinrich Grünfeld geboren. Ich freue mich besonders, dass heute Abend Roe Jasen, die Großnichte von Heinrich Grünfeld und Enkeltochter von Oscar Tietz, aus New York zu uns gekommen ist. Frau Jasen, herzlich Willkommen in Berlin!

Mitten in den Tumulten der Novemberrevolution 1918 schmiedete Heinrich Grünfeld aus vielen, zerstreuten Einzelinteressen einen starken, geeinten Verband. Er schuf eine vernehmbare Stimme des Handels, die auch heute in Politik und Gesellschaft gehört wird.

1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Heinrich Grünfeld war Jude. Sein Geschäft wurde – so der damalige Euphemismus – arisiert. Etwa ein Viertel der Geschäfte gehörten vor 1933 jüdischen Mitbürgern. Sie wurden ihren rechtmäßigen Besitzern entrissen. Diese Verbrechen geschahen, für alle sichtbar, am helllichten Tag.

Wenn wir – epochenübergreifend – 100 Jahre zurückschauen, dann dürfen wir die Erinnerung an diese Ereignisse nicht auslassen. Sie bleiben uns eine Mahnung, wachsam zu sein. Und sie bleiben uns eine Mahnung, entschieden gegen jede Form des Antisemitismus vorzugehen. Das ist Teil einer Verantwortung, die eben keinen Schlussstrich kennt!

Der Einzelhandel hat Verantwortung für Deutschland übernommen: beginnend mit dem Wiederaufbau und der schwierigen Versorgung der Bevölkerung nach dem Krieg, über die Jahre des Wirtschaftswunders, durch Ölpreiskrisen, Rezessionen und Phasen des Aufschwungs bis heute.

Dabei musste sich der Handel immer wieder an Umbrüche in den Einkaufsgewohnheiten anpassen. Heute denken wir insbesondere an die Konkurrenz durch globale Onlinehändler, an große Shoppingmalls und wir denken gleichzeitig an manche Innenstädte, in denen zu viele Geschäfte leer stehen.

Lieber Herr Sanktjohanser: Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen: „Die Innenstadt ist für viele ein Stück Heimat.“ Wir dürfen daher einer Verödung der Innenstädte nicht tatenlos zusehen und ich freue mich, dass der HDE hier als Verband Verantwortung übernimmt!

Denn: Der Einzelhandel trägt eine lokale Verantwortung. Das könnte eine Binse sein. Jedenfalls, wenn man an die vielen kleinen und mittleren Städte denkt, in denen alteingesessene Geschäfte lange leer stehen, bevor das Nagelstudio einzieht. Das mag Einnahmen generieren, die für die Geschäftsmiete reichen. Wichtig genug. Aber solange Einkaufsmöglichkeiten fehlen, kommt kein richtiges Leben zurück in die Innenstädte.

Was für die Kleinstadt gilt, gilt noch mehr für die ländliche Region. Gestern war ich in Ostfriesland unterwegs. Dort habe ich Alfred Iken kennengelernt. Mit seinem „rollenden Wochenmarkt“ zieht er über die Dörfer, verkauft Obst, Gemüse, Wurst, Käse, Fleisch und Fisch. Er sagte: „Gerade die älteren Menschen haben ein Leuchten in den Augen, dass sie sich wieder selbst versorgen können.“

Was Alfred Iken antreibt: Er möchte den Menschen in ihrem Dorf einen Ort der Begegnung schaffen. Und tatsächlich gibt es von den Landfrauen Tee und Kuchen, wenn die Marktstände im Dorf sind. Ich finde, das ist ein schönes Beispiel für das, was Einzelhandel eben auch ist: Treffpunkt und Heimat. Die Älteren sagen: „Jetzt haben wir `ne Stunde, wo wir klönen können und treffen uns nicht nur auf Beerdigungen.“ Das ist eine soziale Dimension des Handels, die kann auch 5G nicht ersetzen.

Die „Buddenbrooks“ erschienen 1901, 1929 erhielt Thomas Mann für sein Werk den Literaturnobelpreis. Kann das Bild des „ehrbaren Kaufmanns“ eines Johann Buddenbrook uns auch heute noch Orientierung geben?

Ich habe es angedeutet, Sie erleben es: Die Digitalisierung revolutioniert den Handel. Das Onlinegeschäft wächst jährlich im zweistelligen Prozentbereich. Während die Großen vorne mit dabei sind, ringen viele kleine Betriebe und Mittelständler noch mit dieser Herausforderung.

Und deswegen ist der HDE als Wissensvermittler so wichtig. Nicht jeder Betrieb kann das Rad neu erfinden, sondern es geht darum, von den Besten zu lernen.

In einer Fachzeitschrift habe ich unter der Überschrift „Der Untergang fällt aus“ ein schönes Beispiel dafür gelesen. München an einem Samstagmorgen: Die ersten Kunden sind bereits bei einem Herrenausstatter in der Kaufingerstraße unterwegs. Der Geschäftsführer, Mitfünfziger, Krawatte und Einstecktuch, seit 30 Jahren im Familienbetrieb tätig, beobachtet das Treiben.

Auf die Frage der Reporterin nach dem Einzelhandel der Zukunft antwortet er mit einem Lächeln: „Die Digitalisierung schluckt den Handel? So ein Schmarrn!“

Das ist keine bajuwarische Forschheit oder der hilflose Ausruf von jemandem, der den Anschluss verpasst und es nur noch nicht gemerkt hat. Im Gegenteil, das ist die mutige Ansage eines Händlers, dessen Laden erfolgreich online mitmischt und der gleichzeitig seine analogen Stärken schärft.

Sie wissen das: Ein Online-Shop und stationärer Handel stehen nicht notwendigerweise im Widerspruch – Espressobar im Erdgeschoss, Lesungen im Geschäft, Modeschauen auf Instagram. All das funktioniert gleichzeitig und verstärkt sich gegenseitig. Ja, auch der Mittelstand kann E-Commerce.

Dafür braucht der Einzelhandel qualifizierte Fachkräfte. Ich finde es beachtlich, wie schnell Sie den Ausbildungsberuf zum E-Commerce-Kaufmann und -Kauffrau auf die Beine gestellt haben. Mehr als 1400 Ausbildungsverträge bereits im ersten Jahr sind ein großer Erfolg!

Gleichzeitig wissen wir: Die Automatisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz bedeuten einen Umbruch. Vieles deutet zum Beispiel darauf hin, dass Jobs an der Kasse irgendwann weniger werden.

Natürlich kann man das positiv drehen und sagen: Das ist eine Chance für die Beschäftigten, andere Aufgaben im Unternehmen zu übernehmen. Aber es ist eben auch eine Zäsur für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich fragen: Wo ist eigentlich mein Platz in dieser neuen Welt?

Damit alle mit Zuversicht in die Zukunft schauen können, müssen wir diese Umbrüche im Berufsleben mit Qualifizierung und Weiterbildung gestalten. Natürlich ist mir bewusst, dass die Herausforderungen der Digitalisierung eine Gestaltungsaufgabe für die nationale und europäische Politik sind. Aber auch Sie als Unternehmer tragen eine Verantwortung dafür, dass der Strukturwandel in Ihren Betrieben gelingt – nicht nur rein kommerziell, sondern im Sinne einer breiteren Verantwortung, die Sie auszeichnet!

Meine Damen und Herren, das ist meine Bitte an Sie: Seien Sie digitale Vordenker, aber gleichzeitig Unternehmer der alten Schule! Verlieren Sie nie das Bewusstsein, dass unternehmerischer Erfolg nicht denkbar ist ohne die Einbettung in die Gesellschaft! Auch dafür bitte ich Sie heute Abend um Ihre Unterstützung!

Vergangenen Juni habe ich das Thomas-Mann-Haus in Kalifornien eröffnet, nicht weit entfernt vom Silicon Valley. Dort habe ich das Gegenszenario gesehen, das mir wirklich Sorge macht.

Ich habe dort mit Innovatoren und Investoren gesprochen, die eine schier grenzenlose Begeisterung für Technologie versprühen und die in der digitalen Welt reich geworden sind. Daneben aber leben, mitten in San Francisco, Menschen in tiefster Armut, die sich selbst mit mehreren Jobs keine Wohnung mehr leisten können und im Auto schlafen. Das alles war zwar nah dran am Thomas-Mann-Haus, aber weit weg vom Geist eines Johann Buddenbrook.

Das ist nicht, was wir unter sozialer Marktwirtschaft verstehen. Das ist nicht unser Weg! Und es bedeutet ganz konkret, genau wie für nicht-digitale Geschäftsmodelle auch: Erfolgreiche Digitalunternehmen müssen am Gemeinwohl Interesse zeigen und – auch in Gestalt von Steuerleistungen – ihren Beitrag dazu leisten!

Wir wollen einen Weg beschreiten, auf dem unternehmerischer Geist und gesellschaftliche Verantwortung Hand in Hand gehen. Und wenn der deutsche Einzelhandel etwas gegen die Vormachtstellung der großen Internet- und Versandgiganten von der anderen Seite des Atlantiks ausrichten möchte, dann wird das nur gemeinsam in Europa gelingen!

Dafür muss man sich für Europa engagieren. Und ich freue mich: Sie tun es. Gemeinsam mit anderen Verbänden haben Sie einen Aufruf für die Europawahl verfasst. Wie ich höre, sogar mit dem Bundesverband Verbraucherzentrale! Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte: Europa ist wirklich ein Friedensprojekt!

Natürlich geht es bei Europawahlen immer um die Frage: Welches Europa wollen wir? Aber jetzt, wo sich Nationalisten und Europa-Gegner im Aufwind fühlen, geht es sogar um die Frage: Wollen wir Europa?

Sie haben diese Frage eindeutig beantwortet: Ja, Sie wollen ein starkes, geeintes Europa! Sie tragen Europa im Herzen! Ich bitte Sie, tragen Sie diese Botschaft in Ihre Betriebe, in Ihre Städte und Dörfer! Dann gelingt, was wir als Europäer uns von dieser Wahl erhoffen: ein lautes und klares Ja zu Europa!

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einen letzten Blick in die Bibel des ehrbaren Kaufmanns werfen. Thomas Buddenbrook beschreibt die Verantwortung, die auf seinen Unternehmerschultern lastet, wie folgt: „Ich wache mit zwanzig Gedanken auf, die tagsüber auszuführen sind, und gehe mit vierzig zu Bett, die noch nicht ausgeführt sind […].“

Mein Wunsch für den heutigen Abend ist einfach: Legen Sie diese 40 Gedanken für einige Stunden beiseite, um nicht gedankenlos, aber sorgenfrei auf das Jubiläum des HDE anzustoßen.

Herzlichen Glückwunsch – ich wünsche eine schöne Feier!

Von admin