ÖFFENTLICHE SITZUNG DES ORDENS POUR LE MÉRITE 2019

Im Jahr 2019 fand die Sitzung der Mitglieder des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste am Sonntag, dem 2. Juni im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin statt. Unter dem Protektorat des Bundespräsidenten werden die Mitglieder des Ordens ihres verstorbenen Mitgliedes Manfred Eigen gedenken.
Die neugewählten Ordensmitglieder, die deutsche Theaterregisseurin Andrea Breth und der österreichische Filmregisseur Michael Haneke, wurden feierlich in ihrer Mitte begrüßt.
Als Festbeitrag findet ein Konzert mit Werken der Ordensmitglieder Sofia Gubaidulina, Heinz Holliger, György Kurtág, Aribert Reimann und Wolfgang Rihm statt.
Mitwirkende Künstler sind Caroline Melzer, Sopran, Nurit Stark, Violine, und Axel Bauni am Klavier und das Harmoniemusikensemble der Universität der Künste Berlin.

 

Abendessen für die Mitglieder des Orden Pour le mérite am Vorabend der Verleihung auf Einladung des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue.

Rede des Bundespräsidenten:

Ich freue mich, Sie hier im Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen – diese so illustre und so außerordentlich vielfältige Versammlung von Gästen. Jeder von Ihnen stellt fast so etwas wie eine eigene Welt dar. Vielfalt und Exzellenz: das ist das Geheimnis dieses Ordens.

Das bringt mich auf einen Gedanken, den ich vor dem gemeinsamen Essen mit Ihnen teilen möchte:

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konnte man neulich zu einem ganzseitigen Artikel fantastische, sehr ins Auge fallende Illustrationen sehen. Über die ganze Seite verteilt sah man acht Frösche. Und zwar in den unterschiedlichsten Farben und Hautpigmentierungen: grün-gelb-schwarz gestreift oder knallgelb mit schwarzen Flecken oder feuerrot oder im schwarz gepunkteten Blau. Offenbar Zeugnisse von Genmutationen, die einer einzelnen Art vollkommen verschiedene Erscheinungsformen bescherten. Als hätten sie sich wie Fußballfans in die verschiedensten Vereinsfarben gekleidet oder seien zu einem phantasiereichen amphibischen Karneval unterwegs.

Alexander von Humboldt, den Sie vorhin im Konzerthaus anläßlich seines 250. Geburtstags als ersten Kanzler des Ordens Pour le mérite gebührend gefeiert haben, hätten diese Illustrationen sicher sehr gefreut. Hat er doch gesucht und gesammelt, katalogisiert, erforscht und dargestellt, was immer er an verschiedenartigen Erscheinungsformen in der Natur finden konnte.

Weniger erfreut, wahrscheinlich zutiefst erschrocken und entsetzt hätte ihn der Inhalt des Artikels. Unter der Überschrift „Rettet den Reichtum der Gene“ beschreibt der Autor nicht nur den feststellbar dramatischen Verlust von Arten, sondern eine andere, für viele bisher noch unsichtbare Gefahr.

Mit dem Berliner Biologen Thomas Borsch, dem Direktor des Botanischen Gartens, weist er auf genetische Auszehrung noch vorhandener Arten hin. Wenn Pflanzen und Tiere weniger werden oder nur noch in wenigen oder gar nur noch einem Lebensraum vorkommen, entwickeln sie keine oder kaum noch Genvarianten. Eine Inzucht, die auf die Dauer auch sie tödlich gefährdet. Der Biologe stellt fest: „Die genetische Vielfalt ist wichtig, um der Art wirklich eine Chance zum Überleben zu geben“. Genvarianten, heißt es, sind das Rohmaterial der Evolution. Und der Artikel fasst zusammen: „Natur verschwindet hinter tiefer Eintönigkeit.“

Eintönigkeit ist lebensgefährlich, Vielfalt hält lebendig. Diese sehr einfache Botschaft der genetischen Grundlagen der Evolution geht über die Biologie weit hinaus.

Ob es kleine oder große Variationen sind, kleine oder große Veränderungen: Wandel und Vielfalt halten nicht nur lebendig, sie machen auch die Schönheit unserer Welt und unseres Lebens aus. Hier treffen sich Ästhetik und Ethik, Ökologie und Kultur.

Als Ende April Notre-Dame in Paris brannte, war das Erschrecken und Entsetzen groß. Es gab viele Reaktionen. Nur eines hat zu Recht niemand gesagt: Es gebe doch noch so viele andere gotische Dome in Nordfrankreich und in ganz Europa, da käme es doch auf einen mehr oder weniger nicht an. Denn das ist ja das Geheimnis der großen Kunst: Einerseits erkennen wir sofort den gotischen Stil, andererseits braucht es nur wenig Erfahrung, um zu sehen: Notre Dame ist nicht der Kölner Dom, Reims ist nicht Canterbury, der Mailänder Dom ist nicht das Ulmer Münster. Überall Gotik und überall eine ganz andere Ausprägung. Abgesehen von der überragenden Bedeutung von Notre-Dame und ihrer Geschichte für Frankreich: Jede einzelne gotische Kirche ist unaustauschbar und unverwechselbar.

Und das gilt auch anderswo in der Kunst. Figaros Hochzeit ist nicht Don Giovanni, die Entführung aus dem Serail ist nicht die Zauberflöte. Keine Mozart-Oper ist wie die andere. Sie sind unverkennbar schon beim Hören der ersten Takte von Mozart, aber keine ist austauschbar. Und so geht es in der Kunst und der Kultur überall zu. Zur Verschiedenheit gehört die Unersetzbarkeit des Einzelnen.

Variation und Verschiedenheit: Was in der Biologie Grundgesetz des Überlebens ist, ist in der Kultur Basis der Schönheit. So verbindet Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Kunst ein zentrales Thema. Das wird Sie, als Orden, der Wissenschaft und Künste zusammenführt, nicht überraschen. Aber ab und zu müssen wir uns auch wieder Einsichten vor Augen führen, die wir zwar längst gewonnen haben oder längst hätten gewinnen können, aber die auch gelegentlich wieder vergessen werden.

Dass hier auch ein Thema des menschlichen Zusammenlebens überhaupt angesprochen ist, ein Thema der politischen Kultur, möchte ich ganz zum Schluss nur noch antippen. Auch hier müssen wir uns immer vor Augen halten: Eintönigkeit, vor allem verordnete, befohlene, durch Manipulation erzwungene Eintönigkeit lähmt, erstickt, vergiftet das lebendige Zusammenleben. Vielfalt belebt, macht lebendig, ja: ist überlebenswichtig. Und jeder Einzelne ist unersetzbar.

Ich freue mich, heute Abend mit Ihnen, liebe Mitglieder des Ordens Pour le mérite, zusammen zu sein. Soviel lebendige Vielfalt ist selten in einem Raum versammelt.

Vielen Dank.

Von admin