And the winners are…: Soeben wurde Deutschlands wichtigster Nachwuchspreis für die Filmbranche im Berliner Motorwerk verliehen. Allen Gewinner:innen gratulieren wir ganz herzlich! Und das sind die FIRST-STEPS-Auszeichnungen in den einzelnen Kategorien.

Abendfüllender Spielfilm:

THE ORDINARIES. Regie: Sophie Linnenbaum (Spielfilm, 120′), Filmuniversität Potsdam, KONRAD WOLF

Die Jurybegründung: THE ORDINARIES ist alles andere als ein gewöhnlicher Abschlussfilm. In diesem filmischen Metaversum ordnet sich die fantasievolle Welt nach Haupt- und Nebenfiguren – also nach solchen, die ihre eigene Geschichte formen, und denen, die nur als Beiwerk der eigentlichen Inszenierung mit limitierten Dialogen dienen. Paula strebt ebenfalls das Leben einer Hauptfigur an. „Dein Vater war eine ganz besondere Hauptfigur. Irgendwo zwischen den Schnitten, da sitzt er jetzt und schaut uns zu.“ Auf der Suche nach diesem verlorenen Vater begibt sie sich auf eine Reise durch ihre Vergangenheit und entlarvt dabei die Ungerechtigkeit der Gesellschaft: Denn welche Geschichte ist relevant genug, um erzählt zu werden und wer übernimmt die Deutungshoheit darüber? Zunehmend muss Paula feststellen, dass etwas an ihrer Geschichte nicht ganz stimmt. Im Filmarchiv finden sich keinerlei Flashbacks. Je tiefer sie gräbt, desto mehr dringt sie in die Welt der Outtakes ein. Sie begegnet Figuren fernab des Farbspektrums, Fehlbesetzungen oder Zensierten mit verpixelten Mündern – den absoluten Outlaws, die plötzlich ein ganz anderes Narrativ der Gesellschaft propagieren. Sophie Linnenbaum inszeniert diese Segregation vom „Wir“ und „die Anderen“ nach politisch-gesellschaftlicher Doktrin als originelle und mutige Satire mit Musicalelementen. Sie beweist eine ganz eigene Vision vom Kino, die sich mit detailverliebter Raffinesse am gesamten Repertoire filmischen Handwerks bedient.

 

Mittellanger Spielfilm:

5PM SEASIDE. Regie: Valentin Stejskal (Mittellanger Spielfilm, 27‘), freie Einreichung

Die Jurybegründung: Die raue See Griechenlands, zwei kernige, wortkarge Männer und die sinnliche Tragik einer Nahtoderfahrung: Nach vielen Jahren sehen sich die ehemaligen Militärkameraden Nikos und Christos an einem ‚Unort‘ wieder, der wenig romantisch, aber der richtige Ort für die besondere Begegnung ist. 5PM SEASIDE ist eine Geschichte, die uns zunächst auf wunderbare Weise vollkommen über die Beziehung der beiden im Unklaren lässt. Die Zeit rauscht am Geschehen vorbei wie die Wellen im Meer. Und erst in der Retrospektive versteht sich ihre subtil gespielte, aber maximal durchdringende Nähe. Valentin Stejskal schafft es, die richtigen Momente auszuklammern und uns mit seiner sanften, zurückgenommenen Erzählweise gänzlich in die Gefühlswelt seiner Figuren eintauchen zu lassen. Seine Inszenierung vermittelt die unendliche Schwierigkeit, Gefühle füreinander zu zeigen, und blättert nach und nach das konventionelle Bild von Männlichkeit auf. Eine entschiedene, persönliche Handschrift, die uns vor allem tragisch poetische Bilder schenkt.

 

 

Kurz- und Animationsfilm:
DAS ANDERE ENDE DER STRASSE / AZ UTCA MÁSIK VÉGE. Regie: Kálmán Nagy (Kurzspielfilm, 22‘), Filmakademie Wien

Die Jurybegründung: In einem ungarischen Dorf wird der junge Abel von seinem Klassenkameraden Bence drangsaliert. Ein blauer Fleck am Arm bricht sein Schweigen und bewegt seinen Vater dazu, den Konflikt verantwortungsbewusst mit der anderen Familie klären zu wollen. Doch nach und nach entfaltet sich eine Erzählung, die sich der Frage nach der wirklich wahren Geschichte stellt und die Grenzen zwischen Kindsein und väterlicher Vorbildfunktion aufbricht. Mit DAS ANDERE ENDE DER STRASSE gelingt Kálmán Nagy eine feine, millimetergenaue Umsetzung eines Väter-Söhne-Konfliktes, die uns durch ihren dramaturgischen Bogen emotional mitreißt und überrascht. Mit bewusst auszuhaltenden Einstellungen und wenigen Schnitten ermöglicht uns der Film der Rollenverschiebung zwischen den Figuren nachzuspüren. Brilliant weiß der Regisseur, nicht nur die Blicke seiner Figuren, sondern auch die unseren zu führen und dadurch eine eindrucksvolle Spannung bis zum Ende zu erzeugen. Eine wahrhaft dreidimensionale Inszenierung, die die Gefühle jeder einzelnen Figur freilegt und uns diese in ihrem Dilemma zwischen Verantwortung und Gewalt wertfrei erleben lässt.

 

Götz-George-Nachwuchspreis:

Nancy Mensah-Offei für ihre Rolle in: MACHINES OF LOVING GRACE (Mittellanger Spielfilm, 25‘)

Die Jurybegründung: Frances entwickelt in MACHINES OF LOVING GRACE die Software einer künstlichen Intelligenz, die eine Symbiose zwischen Gesellschaft und Natur anstrebt. Eine außergewöhnlich sinnliche Science-Fiction-Erzählung, die uns auf eine Reise philosophischer Gespräche zwischen Mensch und Maschine nimmt, innerhalb derer unser Wertekompass auf den Prüfstand gestellt wird. In der Rolle der Wissenschaftlerin wandert Nancy Mensah-Offei facettenreich durch die Szenen mit ihrem gesichtslosen, technologischen Gegenüber. Dabei begibt sie sich in einen feinen, sehr stimmigen Tanz mit der Kamera und lässt die Dialoge zwischen Inhalt und Bild entstehen. Ihre nuancierten Spielentscheidungen zeugen von großer Reife und Authentizität, die uns im Nu erobern und im Kopf wie auch im Herzen bleiben.

 

Dokumentarfilm:

KASH KASH – WITHOUT FEATHERS WE CAN´T LIVE. Regie: Lea Najjar (Dokumentarfilm, 90‘), Filmakademie Baden-Württemberg

Die Jurybegründung: Zweimal die Woche steigen über den belebten Straßen und Buchten von Beirut Taubenschwärme auf, angetrieben von Taubenzüchtern, dem uralten Ritual von ‚Kash Hamam‘ folgend – einem mythischen Glücksspiel, in dem Männer Kämpfe am Himmel austragen. KASH KASH – WITHOUT FEATHERS WE CAN’T LIVE entführt uns in eine Männerdomäne. Sie sehen keine Zukunft im erodierenden Libanon, das Zerfressen ist von Korruption, der wachsenden Inflation, und zerrieben von religiösen Spannungen. Sie entfliehen auf die Dächer ihrer Häuser zu ihren Tauben. Eine Metapher und ein berührender Film. Lea Najjar ist mit dabei, ohne zu stören – mit einfühlsamen Gesprächen, einer genau zuschauenden Kamera und einer Montage, die die unterschiedlichen Protagonisten und filmischen Ebenen stimmig zusammenfügt. Der Film entwickelt eine spielerische Leichtigkeit, wie die Taubenschwärme, hoch über Beirut.

 

Drehbuch:

Pipi Fröstl für (W)HOLE (Spielfilm, 93‘), Filmakademie Wien

Die Jurybegründung: (W)Hole. Selten bringt ein Titel die Essenz eines Drehbuchs so auf den Punkt wie hier. Das Loch im eigenen, nach außen erfüllt wirkenden Sein, das man trotz aller Sinnsucherei und guten Taten im Alltag nicht zu füllen vermag – es klafft auch im Leben der Sozialpädagogin Lisa. Bis sie ihrem entfremdeten leiblichen Bruder Paul wiederbegegnet. Es gibt sofort eine starke Verbindung zwischen den beiden, die keiner Erklärung bedarf. Die gemeinsame DNA? Ein unsichtbares Band durch zusammen erlebte frühkindliche Traumata? Pipi Fröstl liefert in ihrem Buch keine einfachen Antworten. Stattdessen führt sie Lisa an Pauls Hand auf ihre bisher verdrängte, destruktive Seite, in die eindrücklich geschilderten Gefilde des Tabuisierten, Verbotenen. Dabei verliert sich Fröstl nie im Bildlichen, sondern schafft es stets, die symbolisch klug aufgeladenen Geschehnisse auf eine nachvollziehbare Alltagsebene zu bringen. Diese geschwisterliche Wiedervereinigung geht nahe, tut weh und lässt einen bis zum Ende nicht los. Eine beeindruckend stimmige erzählerische Leistung

 

Werbefilm:

MADE FOR HOOMANS. Regie: Marleen Valien (Werbefilm, 5’), Filmakademie Baden-Württemberg

 

Die Jurybegründung: „Animals love oatmilk“ betont die innerfilmische neue Kampagne von Oatley. Wenn da nur nicht diese mürrischen Tiere am Filmset wären… Denn in MADE FOR HOOMANS müssen die Werbeschaffenden hinter der Kamera bei allen tierischen Protagonisten ihre Geduld gleichermaßen unter Beweis stellen: Das Pony Werner fragt sich nach der tieferen Motivation seiner Rolle und warum es durch ein Haferfeld laufen soll, in einem Werbespot für Milch. Eintagsfliege Jean klagt über die amateurhaften Produktionsbedingungen und Eichhörnchen Frank verpatzt jeden Packshot. Marleen Valien inszeniert damit nicht nur einen kreativ animierten Spot, sondern auch eine köstlich amüsante Fabel auf die Werbebranche. Mit einem ungewöhnlichen Ansatz, ausdrucksstarken Charakteren und raffiniertem Sprachwitz ist diese studentische Leistung alles andere als „oatschool“.

 


NO FEAR Award für Produktions-absolvent:innen:

Mariam Shatberashvili für – WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? (Spielfilm, 150‘), Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin

Die Jurybegründung: Zwei Liebende, die sich durch einen bösen Zauber nicht wiederfinden können und auf eine lange Suche gehen. Mit dem poetisch-modernen Märchen WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? hat sich Mariam Shatberashvili ein eher ungewöhnliches und herausforderndes Projekt für ihren Abschluss ausgesucht. Unerschrocken und immer nah am Projekt hat sie am ihr völlig unbekannten Drehort Kutaissi eine nachhaltige Infrastruktur geschaffen, die es dem Team ermöglichte, sich auf die kreative Umsetzung der filmischen Idee zu konzentrieren. Dabei stellte sie sich jeden Tag aufs Neue respektvoll und engagiert den auftretenden kulturellen Differenzen der deutsch-georgischen Co-Produktion. Den damit einhergehenden Hürden begegnete Mariam Shatberashvili mit einer perfekten Mischung aus Bauchgefühl und Verhandlungsgeschick an dessen Ende ein beeindruckender Film steht, der ohne sie nicht so reich an Fantasie und Ideen gewesen wäre.

 

Michael-Ballhaus-Preis für Kameraabsolvent:innen:

Pasindu Goldmann für THE KIDS TURNED OUT FINE (Spielfilm, 73‘), ifs internationale filmschule köln

Die Jurybegründung: Allzu oft konstituiert unser Fremdbild auf die jüngeren Generationen eine Wertung, ohne dass wir jemals richtig hingesehen haben. THE KIDS TURNED OUT FINE nimmt uns an die Hand und gewährt uns einen authentischen Einblick in die Selbstwahrnehmung der Generation Y. Locker und lässig wie die Figuren selbst führt uns die Kamera von Pasindu Goldmann durch ein Lebensgefühl, das von Lebendigkeit und Vitalität zeugt, ohne dabei in eine heroisierende Beschönigung abzudriften. Mit Bravour meistert er die Herausforderung, seine eigene Generation visuell zu porträtieren und ihr gleichzeitig einen originellen Look zu verleihen. Und das ohne in bekannte Klischees abzurutschen oder einfach nur oberflächlich zu wirken. Mit einer zelebrierenden Nostalgie für filmische Klassiker im Gepäck schafft es seine Bildgestaltung eine ganz eigene Sprache zu finden, die das komplexe Thema des übergreifenden Generationskonflikts virtuos dynamisch einfängt. Und statt sich im großen Ensemble des Films zu verlieren, findet er für die individuellen Geschichten der Figuren immer wieder eine passende Interpretation. Mit erfrischenden neuen Ideen und radikalen Entscheidungen schafft seine Bildsprache, eine einzigartige und jetzt schon kultige Stimmung in den rasanten Fluss des Geschehens zu verweben.

 

Die Jurys 2022

Für die Spielfilme: Randa Chahoud, Jonas Dornbach, Yoshi Heimrath, Robert Hofmann, Lorna Ishema

Für die Dokumentarfilme: Alice Agneskirchner, Eva Maschke, Anja Pohl, Jakob Weydemann

Für die Werbefilme: Annelie Deutscher, Imran Khan, In-Ah Lee

Für die Drehbücher: Esther Bernstorff, Toks Körner, Paul Salisbury

Von admin