Der Triumph des Michel Rothengatter
13 Jahre nach Lobell Countess: Mit Nortolanda ist wieder eine Stute auf dem Derby-Olymp – Photo Box und Remember me auf den Plätzen – Trostpflaster für Man of Steel – Rekordmeile an Honey Bear – Für die Jugend: Piece of Cake und Geisha Road Grif
Sonntag, 18. August.
MW. Als um 18.12 Uhr das erste Gespann im zum 129. Mal ausgetragenen deutschen Traber-Derby die Ziellinie passierte, staunten (fast alle) Fachleute Bauklötze, und die Laien wunderten sich – und das nicht schlecht. Viele Szenarien waren im Vorfeld durchgespielt worden, unter anderem mit dem ausnahmsweise mal nicht im Kreis der elf Fahrer engagierten Robin Bakker, der das bedeutendste und lukrativste deutsche Trabrennen – heuer standen 236.951 Euro zur Debatte – in den vergangenen elf Jahren allein sechsmal an seine Fahne geheftet hat. Doch Resultat und Ablauf verblüfften auch ihn. 13 Jahre nach Lobell Countess wischte eine Stute dem starken Geschlecht im 1895 erstmals entschiedenen Blauen Band mal wieder eins aus – und das in einer Manier, die nichts mit Glück zu tun hatte und an der es nicht das kleinste Fitzelchen zu deuteln gab. Nicht der deutsche Michael (Nimczyk), der als sonnenklarer 14:10-Favorit in die 1.900 Meter lange Partie eingestiegen war, sondern der holländische Michel (Rothengatter) schmückte sich erstmals mit dem bedeutendsten Titel, den Deutschlands Sulky-Sport zu vergeben hat.
Nun war seine Nortolanda keineswegs die große Unbekannte, wie an Sieg-Odds von 4,6 festzumachen war, die sie als zweite Favoritin auswiesen. In allen Facetten überzeugend war ihr Vorlauf-Sieg vor 14 Tagen gewesen, doch war eben jener Brothers in Arms‘ nicht nur deutlich schneller, sondern auch spektakulärer dahergekommen. Zudem war der von der Besitzergemeinschaft Werner Pietsch / Stall Germania erst vor rund zwei Monaten erworbene Braune durch eine sehr viel härtere Schule gegangen – unter anderem jener von Paris-Vincennes, der berühmtesten Trabrennbahn der Welt, wo die Trauben ganz besonders hoch hängen. Der sicherere der Beiden war er ohnehin, hatte sich doch Nortolanda die eine oder andere Unsicherheit in ihrer Karriere geleistet. „Michael Nimczyk darf nur nicht die Nerven verlieren. Er hat das beste Pferd zur Hand“, war nicht nur Bakkers Meinung.“
Der 38jährige überstürzte nichts, doch auch Rothengatter fackelte nicht lange, ließ seine Stute an der „2“ losflitzen und eroberte gegen Photobox (1) im Handumdrehen die Spitze, die er ausgangs der ersten Kurve, in der Vorlaufsieger Nelson Newport einmal mehr zeigte, dass er dem Berliner Rechtskurs nicht übermäßig zugeneigt ist und sich im Galopp verabschiedete, an Brothers in Arms abtrat. Remenber me (5) tauchte als Vierter in die Innenspur, so dass Ois Tschikago, dem zweiten „Gramüller-Wieserhofer“ , der äußere Fahrtwind vor Navajo MH und Noah Newport um die braune Nase wehte. Das Kalkül von Thorsten Tietz, der vorab ein Rennen analysieren kann wie kaum ein Zweiter, ging auf: 1.000 Meter vorm Ziel ließ sich Rothengatter aus der Innenspur locken, um freie Fahrt zu haben, was dem deutschen Goldhelm nur recht sein konnte.
Die Überraschung bahnte sich im Scheitel des Schlussbogens an, als nicht Nortolanda, sondern der bei dieser Ausgangslage „unverlierbare“ Brothers in Arms erste Notsignale sendete. In dem Maße, wie die Fabulous-Wood-Tochter aus Zucht und Besitz der Herren Gerrits und Schavemaker einen Gang höher schaltete und verblüffend leicht davonflog, wurden dem Favoriten die Beine schwerer. Mehr Pep hatte sein streng geschonter Trainingskumpel Photobox, der wie schon im Vorlauf mit krachendem Speed zu Platz zwei donnerte. Selbst Rang drei musste Brothers in Arms an Remember me abtreten, der reichlich in die Waagschale zu werfen hatte.
Die Peitsche gen Himmel gereckt, sauste Rothengatter drei Längen voraus unter Egalisierung des im Vorjahr von Schampus auf den Kilometerschnitt von 1:11,4 gedrückten Derby-Rekords durchs Ziel. Während der ob dieses Ausgangs etwas konsternierte Nimczyk resümierte, er müsse mit dem vierten Platz zufrieden sein und nehme im kommenden Jahr einen neuen Anlauf, war der 35jährige Holländer ein freudestrahlender, aber auch gefasster Sieger: „Ich wollte unbedingt die Spitze, um nicht irgendwo im Mittel- oder Hintertreffen zu weit vom vorderen Schuss zu sein. Als Dreijährige hat Nortolanda schon gezeigt, wie rasant sie starten kann.“ Ob er ein mulmiges Gefühl gehabt habe, als er so weit vorm Ziel in die Außenspur gewechselt sei? „Ich wusste, wie gut meine Stute ist. Und eines hab ich gelernt: Wenn Du gewinnen willst, musst Du Mut haben. Du darfst nicht auf Glück bauen, sondern nur kein Pech haben. Im Schlussbogen war ich ‚volle Hände‘ bereits sehr, sehr sicher, dass wir das Ding nach Hause schaukeln würden.“
Wo Michel Rothegatter dran steht, ist immer auch ein Stück des im Februar 2022 im Alter von 55 Jahren verstorbenen Peter Strooper drin, der besagte Lobell Countess zum Derby-Sieg geführt hat. „Natürlich gehen meine Gedanken in diesem Moment auch zu ihm. Bei ihm habe ich als 14-, 15jähriger Traberluft geschnuppert, Pferde trocken geführt, Boxen ausgemistet, später beim Training geholfen, selbst das Trainerhandwerk ergriffen und seine Ranch in Callantsoog weitergeführt. Er hat mich geformt wie kein Zweiter und wäre sicher stolz auf das, was mein Team, Nortolanda und ich heute vollbracht haben.“
In einem hat er seinen einstigen Herrn und Meister sogar schon überflügelt: Stuten-Derby – die Oaks – und Derby in einem Jahr zu gewinnen, das hat nicht mal Strooper geschafft. In diesem Jahrtausend gelang ein solcher Coup nur Michael Schmid, der 2003 für Gerhard Holtermann mit Nordic Gold November und Nelson November beide Lorbeerkränze abgeräumt hat, sowie Robin Bakker, der 2018 mit den von Paul Hagoort trainierten Avalon Mists und Mister F Daag die Ziellinie als Erster gekreuzt hat. Noch länger muss man im Geschichtsbuch zurückblättern, um einen Fahrer zu finden, der zugleich als Trainer die Pokale in die Höhe stemmen konnte: Dem großen Heinz Wewering war dies 1997 mit Liberty Boshoeve und Gringo vergönnt.
Wie selten es geworden ist, dass seit Einführung des Stuten-Derbys eine Lady den Herren eins übergebraten hat, zeigt ein Rückblick auf das vergangene halbe Jahrhundert: 1976 Floral Scot, 1978 Ada letztmals über die traditionelle Derby-Distanz von 3.200 Metern, Onore, die 1979 im erstmals auf der Mittelstrecke entschiedenen Blauen Band triumphierte, Sunset Lane 1994 und eben Lobell Countess waren die Vorgängerinnen Nortolandas, die nach sieben Siegen aus zwölf Versuchen mit 177.635 Euro weitermachen wird.
Ein zarter Mariendorf-Touch ziert das siegreiche Team: Hinter einem erfolgreichen Mann steht häufig eine starke Frau – in diesem Fall Rothengatters Lebensgefährtin Viktoria Peitz, die Tochter des vor acht Jahren verstorbenen Mariendorfer Trainers Peter Scheack.
Trostpflaster für Robbin Bot
Im mit 20.000 Euro dotierten Derby-Trostlauf, den nur sieben Aspiranten in Angriff nahmen, bewies Robbin Bot, dass es sich lohnen kann, mit ruhiger Hand in der Innenspur zu warten und zuzusehen, wie die Anderen sich um Kopf, Kragen und Luft fahren. Aus dem dritten Paar innen fand der junge Familienvater rechtzeitig das Tor zur Freiheit und fegte mit Man of Steel an Tailor Hill, der einiges investieren musste, um nach 700 Meter gegen Goldfinger in Front zu kommen, und dem in der Todesspur ackernden Cincinnati Beach S locker vorbei.
Jugend-Preise an Piece of Cake und Geisha Road Grif
Der wie im Vorjahr nach Geschlechtern geteilte Jugend-Preis um jeweils 15.000 Euro für die Zweijährigen ging bei den acht Herren an den auffälligen Braunschimmel Piece of Cake, mit dem Dion Tesselaar, seit Jahrzehnten einer der bedeutendsten Entwickler junger Pferde in den Niederlanden, sich das größte Stück vom Kuchen mit einem strammen Marsch vorneweg abschnitt. Endgültig in trockenen Tüchern war das gute Ding, als sein Verfolger Fragolino Rosso im Schlussbogen aus dem Strich kam. 1:15,2 über 1.900 Meter lautete der erste offizielle Eintrag ins Fahrtenbuch des Hans-Hazelaar-Nachkommen.
Allein sieben der zwölf bislang ungeprüften Stuten stellte das Quartier von Züchter, Besitzer und Trainer Patrick Maleitzke. Erinnerungen an 2020 wurden wach, als Cindy Truppo mit Thorsten Tietz mit ihrem Sieg den Grundstein zur Wahl zur Traberin jenes Jahres legte. Auch Geisha Road Grif wurde in Italien geboren und von Tietz – diesmal nicht fürs eigene Quartier, sondern für jenes Familie Gramüller – an die Hand genommen und machte ihre Sache nach der etwas wackeligen Startphase grandios. Eine Runde vor Schluss übernahm die Braune das Kommando von Trainingsgefährtin Giselle MMS, die sie ab 500 Meter vorm Ziel begleitete. Nach dem Fehler der großrahmigen Favoritin Perfect Girl Boko war das Gramüller-Duo sehr sicher voraus. Beste des Maleitzke-Septetts war Neith Victory S als Vierte vor Midnight Lady S, die mit Jos Verbeeck als Fünfte anschlug.
Aufs richtige Pferd gesetzt
…hatte Victor Gentz in der dünn besetzten Rekordmeile, sich für den in dieser Saison kometengleich aufgestiegenen Honey Bear entschieden und den einstigen Bahnrekordler Major Ass Robin Bakker anvertraut. Ganz innen wehrte Honey Bear im Kampf um die Spitze Jacques Villeneuve ab, zog unbeirrbar seinen Stiefel durch und war als Ärmster des Sextetts auch zum guten Ende von einem Schwergewicht wie dem einstigen Derby-Favoriten Keytothehill kein bisschen in Verlegenheit zu bringen. Mit 1:11,2 verbesserte der dunkelbraune Bomber seine persönliche Bestmarke um 0,3 Sekunden und avancierte zum Schnellsten des gesamten Meetings.
Mit dem Derby-Ausklang der Franzosen-Traber begann die 14-Rennen-Karte des bedeutendsten Trabrenntags der Republik. Über 3.200 Meter durften sich die altgedienten gallischen Recken austoben – mit teils bis zu 40 Metern Zulage. Das machte dem Quintett nichts aus, das nach 800 Metern den Kontakt zu den drei Vorderbändlern hergestellt hatte. Am Ende setzte sich die größere Physis der Reichen glasklar durch, die die ersten vier Prämien einheimsten. Primus inter pares blieb der enorm zuverlässige Eckmuhl Jack; mit dem Fuchs war Thomas Panschow mal wieder auf der goldrichtigen Fährte.
Den kurioserweise schon an neunter Stelle gelaufenen Derby-Ausklang für die Profis ließ sich Josef Franzl nicht nehmen. Mit der früh nach vorn geflitzten European Winner herrschte er unterwegs wie ein Fürst und ließ auch zum Schluss gar nichts anbrennen mit der in Italien geborenen Fabulous-Wood-Stute, die Michael Nimczyks Velten Riesling eine deftige Abfuhr erteilte.
Den Derby-Ausklang für die nur einmal gefragten Amateure sicherte sich mit der besten Taktik Hiltje Tjalsma. Sie ließ Gotta be Brilliant und Welcome sich richtig austoben, setzte Maja Beuckenswijk erst auf den finalen 300 Metern wuchtig ein – und schon schwirrte die holländische Biene mit der amtierenden Europameisterin der Amazonen auf und davon.
Publikumsliebling ist Michael Nimczyk (nicht nur) in Mariendorf schon jahrelang. Das fand offizielle Bestätigung mit dem Sieg im Derby-Pokal der Publikumslieblinge, in dem der 38jährige Start-Ziel mit Isadora Newport überlegen dominierte.
Das hatten wir schon: Die Abteilung Trabreiten eines Kombi-Pokals stand im Zeichen eines einsamen, beinharten Duells zwischen Heavenly Dreamgirl und Mireije Charisma, die sich nach furiosen 400 Metern endlich vorbeigekämpft hatte. Vorentscheidend war dies mitnichten, wie sich eine Runde später zeigte: Marlene Matzky blies aus der Deckung zur Attacke und kam mit dem „himmlischen Traumgirl“ auch beim siebenten gemeinsamen Ausritt mit der Siegerschleife heim.
In der Wiederholung mit Profis leistete sich Heavenly Dreamgirl nach 200 Metern einen bei ihr völlig unüblichen Fehler und war damit ebenso heraus wie der beim „Ab“ patzende Glacier. Gleichfalls nicht glatt war Flash Gordon eingestiegen, mit dem Christoph Schwarz trotz rund 30 Meter Rückstand auf Mireije Charisma und Prosperous S zur Aufholjagd ansetzte und zum guten Ende sogar noch sicher die Hosen anhatte.
Das Halbfinale des Dreijährigen-Kriteriums für Hengste und Wallache wurde zum Schaulaufen des Nimczyk-Trios, das die ersten drei Plätze belegte. Bei den Derby-Hoffnungen von morgen behielt Aladin auch beim fünften Auftritt seine weiße Weste und überrannte den nach einer Runde von ganz hinten pfeilschnell in Front gedüsten Ready Hill wie nix, obwohl auch er auf den ersten 900 Metern Enormes leisten musste. Dritter Musketier im Auftrag Wolfgang Nimczyks war Black Heuvelland, der so unauffällig wie effektiv zu Platz drei kam.
Eine klare Sache für den erst dreijährigen Favoriten Feudale degli Dei wurde der Derby-Pokal der Champions, an dem nur Fahrer teilnehmen durften, die sich mindestens einmal in der Ehrenliste von deutschem Derby oder Stuten-Derby verewigt haben. Einmal in jeder „Disziplin“ hat Micha Brouwer gepunktet – 2021 mit Lorens Flevo, 2023 mit Mose Eagle – und drückte dem zu Höherem berufenen Brillantissime-Sohn ein hartes Pensum auf, dass der klaglos durchstand und Josef Franzls zudringliche Torina und Robin Bakkers Lochran F.Boko sicher in Schach hielt.
Den Schlusspunkt unters Meeting 2024 setzte der hinter Tempomacherin Dorothy BR lauernde Saluki, für den an der letzten Ecke passend die Tür aufging. Daniel Rosenberg nutzte die Offerte mit dem 147er Außenseiter und rüttelte die V7+-Wette ein letztes Mal ordentlich durch. Ein Glücklicher blieb übrig, der für sieben Richtige auf dem Königswette-Schein die Rekordsumme von rund 129.000 Euro abholte – mehr, als die Derby-Siegerin gutgeschrieben bekommen hat.
Und dann war da noch der fast schon faustische Pakt der Mariendorfer mit dem Wettergott. Während tags zuvor Paris-Vincennes beim Einstieg ins Herbst-Meeting im Regen förmlich ertrank, machten die für Sonntag angekündigten Schauer um den Berliner Raum einen großen Bogen. Bis zum Schluss blieb es bei angenehmen 23 Grad zwar bewölkt, aber trocken.
Auch am letzten Tag gelang es nicht, den Abwärtstrend an der Umsatzfront zu stoppen: Pro Rennen hatten im Vergleich zum Derby-Tag 2023, an dem im Durchschnittlich pro Rennen 43.554 Euro gedreht worden waren, die Totokassen diesmal nur 41.565.- Euro zu verarbeiten. Ein Minus von 4,5 Prozent – und das trotz eines gigantischen Jackpots von 56.922 Euro in der V7+-Wette, der die Wetter zum Einsatz von 108.000 Euro allein in dieser Spielart animierte.
Umsatz bei 14 Rennen: 581.910,- Euro (incl. 266.607,40 Euro Außenumsatz), davon 107.889,20 Euro in der V7+-Wette
Umsatz 2023: 609.756,04 Euro Euro bei 14 Rennen, davon 50.805,60 Euro in der V7+-Wette