Die Schauspielerin Sandra Hüller (44) und  luxemburgisch-deutsche Schauspielerin Vicky Krieps (39) sind in der Französischen Botschaft mit dem Orden der Künste und der Literatur ausgezeichnet worden. Hüller („Sisi & Ich“) und Krieps („Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“) erhielten die Auszeichnung am Montag Abend am Pariser Platz aus den Händen von Frankreichs Kulturministerin Rima Abdul Malak.

Mit dem Orden zeichnet das Frankreich Menschen aus, die sich durch ihre Arbeit im künstlerischen oder literarischen Bereich in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben. Der „Ordre des Arts et des Lettres“ wird seit 1957 vom französischen Kulturministerium vergeben.

Rede von Kulturministerin Rima Abdul Malak anlässlich der Verleihung :

Verleihung der Insignien Ritterin im Orden für Kunst und Literatur an Vicky Krieps

Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Claudia, die wir in Kürze erwarten, sehr geehrter Herr Botschafter, lieber François, liebe Freunde der Berlinale, liebe Mariette, lieber Carlo, Monsieur le directeur général délégué du Centre national du cinéma, cher Olivier,

liebe Vicky Krieps,

es ist schwer zu erklären, aber es gibt Menschen, von denen weiß man einfach, dass sie Künstler sind.

Weil sie bestimmten Momenten eine unerwartete Wendung geben… Weil sie einen Raum durch ihre Anwesenheit erstrahlen lassen… Weil sie sich aller künstlerischen Ausdrucksmittel bedienen und dabei immer etwas Neues schaffen.

Kurz gesagt: Weil sie nie dort sind, wo man sie erwartet!

Und Sie besitzen zweifellos diese seltene und unvorhersehbare Gabe, die Welt zu prägen. Sie wurden in Luxemburg geboren, weshalb ich diese Rede mit einigen Versen der luxemburgischen Dichterin Carla Lucarelli beginnen möchte, die ich kürzlich entdeckt habe, und in denen Ihr Werdegang auf wundersame Weise mitzuschwingen scheint:

„noch ungeboren

du im Möglichen

in Städten mit Regen

[…]

Kinder

Etappen überspringend

an den Schnürsenkeln

Träume von Grenzen

[…]

du denkst, wie das Laub

in goldgelb

malst Paläste in den Himmel“

Ich glaube, dieses brodelnde Verlangen „sich im Möglichen auszuleben“, hatten Sie schon immer.

Als Kind liebten Sie es, sich zu verkleiden und in eine andere Haut zu schlüpfen, indem Sie unzählige Theaterstücke und Sketche schufen, bei denen Sie gleichzeitig Drehbuchautorin, Regisseurin und Schauspielerin waren… Ihr liebstes Publikum waren Ihre Geschwister, die die ersten 3 Schritte dieses Künstler*innendaseins miterlebten. Im Übrigen sagte dies auch Ihre Schwester Anne: „Als Kinder verbrachten wir unsere Zeit mit dem Erfinden von Geschichten und dem Darstellen von Charakteren. Der große Garten und die Ruinen des angrenzenden Schlosses waren unsere Inspiration“…

Aber trotz des Schlosses kam es für das bereits damals unkonventionelle kleine Mädchen nicht in Frage, eine Prinzessin zu spielen: Nein, Sie waren lieber der kleine Pirat, durch den Sie im Alter von 5 Jahren zum Star des Club Med wurden.

Sie lieben starke und unangepasste Charaktere. So wie in Die Schöne und das Biest, die Sie durch den Cocteau-Film entdeckten, den Ihnen Ihr Vater gezeigt hat, sowie tausend andere französische und italienische Klassiker, die er restauriert…

Aber es kam für Sie nicht in Frage, sich zu früh auf einen einzigen Weg und ein einziges Leben festzulegen. Sie lieben Sport, Debatten, Theater, besondere Begegnungen, Reisen, Engagement … Und Sie brechen gerne mit den Normen.

Man muss dazu sagen, dass Sie aus einer Familie stammen, in der Eklektizismus ein Mantra und Widerstand ein 47. Chromosom ist! Sie sind Urenkelin eines Gewerkschafters und Mitglieds der Sozialistischen Partei Luxemburgs, der sich für das Frauenwahlrecht einsetzte, Enkelin des Politikers Robert Krieps, der in Luxemburg für die Abschaffung der Todesstrafe und die Einführung der selbstbestimmten Familienplanung kämpfte – und sogar in ein legendäres Scharmützel im Europaparlament mit Jean-Marie Le Pen verwickelt war…

Wenn Sie sich also über etwas empören oder etwas in Frage stellen, liebe Vicky, dann zögern Sie nicht, Ihre Meinung zu äußern: So kommt es, dass Sie eine landesweite Polemik auslösen, als Sie bei der Übergabe Ihres Abiturzeugnisses ein Bildungssystem anprangern, das Ihrer Meinung nach vor allem auf das Auswendiglernen setzt und nicht auf das kritische Denken… Ein System, das gegen jedwede Intelligenz ausgerichtet ist und uns zu Robotern macht. Als Sie von der Presse eine Flut von Kritik einstecken müssen, beschließen Sie fortzugehen, um eine andere Realität als die in Luxemburg kennenzulernen und sich für Dinge zu engagieren, die Ihnen am Herzen liegen, wie zum Beispiel, als Sie im Alter von 20 Jahren nach Afrika zogen, um dort in der humanitären Hilfe für HIVpositive Kinder zu arbeiten.

Zurück in Europa wollten Sie Anwältin werden. Sie begannen zudem eine Ausbildung an der Universität der Künste in Zürich und traten parallel dazu am Schauspielhaus auf, wo Sie Ihr Talent für das Theater ausbauten. 2008 hatten Sie Ihren ersten Filmauftritt in Eileen Byrnes Kurzfilm La nuit passée: Ihr erster Versuch war gleich ein Volltreffer, denn er brachte Ihnen den Preis als beste Nachwuchsdarstellerin beim Filmfestival in Budapest ein!

Dann begann die Zeit der Castings: In den 2010er Jahren bauten Sie, die Ihre „Träumen von Schnürsenkeln an den Grenzen“ überwinden wollten, Ihr Repertoire als wunderbar polyglotte Schauspielerin aus: Sie spielten eine Krankenschwester in dem belgischen Drama Sie weint nicht, sie singt; tauchten ein in das Leben in Westdeutschland der 1960er Jahre in Wer wenn nicht wir des Deutschen Andres Veiel und waren die ermordete Mutter in dem spannenden Thriller Hanna des Briten Joe Wright…

In diesen ersten Jahren Ihrer Schauspielkarriere, in denen Sie viele Auftritte in kleinen Rollen hatten, spielten Sie auch bereits an der Seite namhafter Schauspielerinnen und Schauspielern wie Cate Blanchett, Kristin Scott Thomas, Daniel Auteuil, Leila Bekhti uvm.

Im Laufe der Zeit perfektionieren Sie Ihre schauspielerischen Fähigkeiten und erhielten immer größere Rollen. Nach einem Fehlstart aufgrund des Konkurses der Produktionsfirma des Biopics Sexual Healing, in dem Sie die Freundin eines Marvin Gaye auf Kokainentzug in Ostende spielten, ließen Sie sich nicht entmutigen und übernahmen eine Hauptrolle in Das Zimmermädchen Lynn. Und obwohl er beinahe nie gedreht worden wäre, wurden Sie durch diesen Film von Paul-Thomas Anderson entdeckt.

Aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten durch den drohenden Konkurs der Produktionsfirma beschlossen Sie und Ihr Vater, alles auf eine Karte zu setzen und selbst in den Film zu investieren, an den Sie glaubten und wurden zu Co-Produzenten. Und es wurde ein Erfolg!

Denn dank dieses Films bekamen Sie, wie gesagt, eine Rolle in dem großartigen Film Der seidene Faden an der Seite von Daniel Day-Lewis. Als immer weniger diskrete Muse eines genialen und besessenen Modeschöpfers sprengen Sie die Leinwand mit einer subtilen Darstellung, die uns immer stärker in ihren Bann zieht.

Hollywood ist nun an Ihnen interessiert… aber Sie haben nicht vor, sich Ihre Wünsche diktieren zu lassen! In Der seidene Faden, als Daniel DayLewis Ihnen nahelegt, dass Sie Ihren Geschmack ändern, sich anpassen, sich etwas Mühe geben könnten, antwortet Ihre Figur: „Ich mag meinen eigenen Geschmack“. Ein Motto, das Sie sich zu eigen machen könnten.

Ihr eigener Geschmack bedeutet, Filme zu machen, an die Sie glauben und die in Ihnen etwas auslösen. Sie kehren nach Europa zurück und setzen gleichzeitig mehrere Projekte mit Regisseuren um, die mit Ihnen drehen wollen und bereit sind, ihre Vorstellungen an Ihre Persönlichkeit anzupassen, denn ihnen ist klar, dass Sie nicht versuchen werden, jemandem zu gefallen oder sich zu verändern, um jemand zu sein, der Sie nicht sind!

So sagte Ihr Freund Govinda van Maele, in dessen Film Gutland Sie 2018 mitspielten, dass „Sie der Welt des Kinos, die stets alles kontrollieren will, so viel Freiheit und Ungewissheit einhauchen“! Mit jedem Spielfilm wurden Sie immer mehr zu einem Liebling des europäischen Autorenkinos, gerade wegen Ihrer Fähigkeit, in alle möglichen Charaktere zu schlüpfen, ohne den Glanz und die Einzigartigkeit Ihrer eigentlichen Persönlichkeit zu verlieren. Ich denke da beispielsweise an Bergman Island von Mia Hansen-Love, einer großen europäischen Co-Produktion (Frankreich, Belgien, Deutschland, Schweden!). In der erhabenen Landschaft der schwedischen Insel Farö spielen Sie mit großer Sensibilität eine Filmemacherin auf der Suche nach Inspiration. Eine Rolle, die Sie an die langen, nachdenklichen Spaziergänge im Wald erinnert haben muss, die Sie gerne machen, wenn Ihnen das Leben in der Stadt zu viel wird und Sie zu sich selbst zurückfinden wollen. Im darauffolgenden Jahr sehen wir Sie in Frankreich in dem wunderbaren Film Für immer und ewig von Mathieu Amalric wieder, einer Adaptation des Theaterstückes Je reviens de loin (ich komme von weit her) der Dramaturgin Claudine Galéa. Dort tauchen wir mit Ihnen ein in die intimsten Momente des Lebens einer Frau, Clarisse, die ihre Familie, ihr 7 Leben hinter sich lässt, um sich selbst zu retten und nicht verlassen zu werden… Sie fühlen sich sowohl in Blockbustern wie Old als auch in diesen Autorenfilmen zu Hause. Ich werde nicht alle Filme aufzählen, in denen Sie in den letzten Jahren mitgespielt haben, aber es wäre ungerecht, Ihre Darstellung einer Sissi in Corsage von Ihrer Freundin Marie Kreutzer nicht zu erwähnen, die sich gegen das auflehnt, was man von ihr erwartet – eine absolute Charakterrolle! Auch hier wird Ihr Mut belohnt.

Während viele Schauspielerinnen bei der Vorstellung in die Fußstapfen einer Romy Schneider zu treten, erzittern würden, haben Sie sich ungezwungen und begeistert darauf eingelassen! Und das mit Erfolg, denn für diese Rolle wurden Sie 2022 beim Filmfestival in Sarajevo als beste Schauspielerin und ebenfalls im letzten Jahr in Cannes in der Sektion Un Certain Regard als beste Darstellerin ausgezeichnet. Sie waren auch die letzte Leinwandpartnerin von Gaspard Ulliel, den wir so sehr vermissen, in dem neuesten Film der talentierten Berliner Regisseurin Emily Atef, die heute Abend bei uns ist. Ein kraftvoller Film über das Ende des Lebens und die Liebe. Während man Schauspieler*innen oft nachsagt, ihr Talent bestehe darin, sich in jeder Rolle neu zu erfinden, besteht Ihres eher darin, Ihre Figuren mit äußerster Genauigkeit zu interpretieren, ohne jemals Ihre eigene Persönlichkeit aufzugeben! Danke, dass Sie uns in jedem Bild diese strahlende Dreistigkeit vermitteln. 8 In wenigen Monaten werden wir diese mit Freude bei Ihrer Darstellung der Anna von Österreich in Martin Bourboulons Die drei Musketiere wiedererleben. Auch hier werden Sie die Geschichte um eine völlig neue Komponente erweitern, so wie Sie es bei jedem Film tun. Ein Grund mehr, Ihnen für all das zu danken, womit Sie das französische Kino bereichern. Die Zusammenarbeit zwischen europäischen Künstler*innen ist eine Chance, mit Ihnen wird sie zur Selbstverständlichkeit, so fließend wechseln Sie von einer Sprache und einer Welt in die andere.

Danke, dass Sie das Europa der Kultur, für das wir uns einsetzen, so gut verkörpern, dass Sie einzigartige Filme verteidigen und unvergessliche Rollen spielen.

Liebe Vicky Krieps, mit großem Stolz verleihe ich Ihnen heute Abend die Insignien einer Ritterin im Orden für Kunst und Literatur.

Vicky Krieps, ich verleihe Ihnen die Insignien einer Ritterin im Orden für Kunst und Literatur

Rede von Rima Abdul Malak, Ministerin für Kultur Verleihung der Insignien einer Offizierin im Ordre des Arts et des Lettres an Sandra Hüller

Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Claudia, die in Kürze zu uns stoßen wird,

Monsieur l’Ambassadeur, cher François,

Liebe Freundinnen und Freunde der Berlinale, liebe Mariette, lieber Carlo,

Monsieur le directeur général délégué du Centre national du cinéma, Cher Olivier,

Liebe Sandra Hüller,

als zentrale Persönlichkeit der deutschen „Nouvelle Vague“ schlüpfen Sie auf beiden Seiten des Rheins mit Stärke und Zerbrechlichkeit in die Rolle von Antihelden und finden dabei stets den perfekten Ausdruck für das Unnahbare in diesen Figuren.

Ihr Leben beginnt in einem kleinen Ort bei Suhl in Thüringen in der damaligen DDR. Sie wachsen in den 1980er Jahren in einem behüteten Umfeld auf. Ihre Eltern, beide Erzieher, treffen die Entscheidung, sich so weit es geht dem Konsum zu verschließen. Bei ihnen gibt es weder Telefon noch Auto. Ihre Kindheit behalten Sie als eine glückliche Zeit im Schoße der Familie in Erinnerung.

An der Schule, einem Ort des kollektiven Lernens und der individuellen Emanzipation, entdecken Sie dank einer Englischlehrerin das Theater für sich. Diese so subtile Kunst, andere Leben als das eigene zu verkörpern, von der Sie sich nicht wirklich vorstellen konnten, dass man Sie zum Beruf machen kann. Wenn man bedenkt, was für eine große Schauspielerin Sie geworden sind, ist es schon allerhand, sich vorzustellen, dass Sie in einem Ort aufgewachsen sind, wo es weder ein Theater noch ein Kino gab.

Anfangs erscheint Ihre damalige Schüchternheit wie ein unüberwindbares Hindernis dabei, den Blicken der anderen gegenüberzutreten … Und dennoch: Als Sie das erste Mal auf die Bühne steigen, mitgerissen von der Aufregung und konzentriert auf Ihren Text – den es bloß nicht zu verhunzen gilt! –, haben Sie gar nicht die Zeit, in Stress zu verfallen, und zwar aus dem einfachen Grund … dass Sie vergessen, Angst zu haben!

So sind Sie der Leidenschaft des Spiels verfallen, eine glühende Leidenschaft, die Sie seitdem nicht mehr losgelassen hat! Die Schauspielkunst wird für Sie zu einer eine Obsession, Ihre einzige Obsession, die Sie um jeden Preis befriedigen müssen.

Ihr Bedürfnis, Ihrer Kreativität Ausdruck zu verleihen, kommt einer regelrechten Notwendigkeit gleich, die so stark ist, dass es Sie, als Sie erfahren, dass Schauspielerin ein „echter“ Beruf ist, bei dem Gedanken, diesen eines Tages ausüben zu können, eine ganze Nacht lang um den Schlaf bringt!

Mit Ihrem jugendlichen Übermut gehen Sie sogar so weit zu sagen, dass Sie zu sterben drohen, wenn Sie nicht jeden Tag die Bühne betreten können. Ich wage zu hoffen, dass dies nach all den Erfolgen heute nicht mehr der Fall ist!

In der Zwischenzeit verändert sich die Welt und Sie erleben ihre geopolitischen Umbrüche mit voller Wucht, als Sie unmittelbar Zeugin des Mauerfalls werden. Sie erinnern sich sehr gut daran, wie Sie die Grenze zum Westen mit Ihren Eltern passierten, die 100 D-Mark Begrüßungsgeld erhielten und danach ganz schnell in einen Supermarkt gingen, um die unzähligen Produkte zu entdecken, die man Ihnen so sehr angepriesen hatte!

In dieser Zeit der Aufregung und der Ungewissheiten beschließen Sie, das geborgene Elternhaus zu verlassen. Sie sind 17 Jahre alt und haben sich mit Leib und Seele der Leidenschaft des Schauspiels verschrieben, als Sie sich auf den Weg in das brodelnde Berlin machen.

Diese Entscheidung, hunderte Kilometer weit wegzuziehen, um sämtliche Techniken des Metiers an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zu erlernen, war keine leichte. Weit weg von Ihrer Familie fühlen Sie sich einsam.

Doch wie Sie Jahre später einmal erklären werden, nehmen Sie sich die Frauen Ihrer Familie zum Vorbild, denen es trotz der hilflosen Lagen, in die Sie geraten konnten, stets gelungen war zu kämpfen und ihren Träumen zu folgen. Diese Frauen sind in Ihren Augen leuchtende Beispiele für Hingabe und Kampfgeist, von denen Sie sich auch heute nach wie vor bei Ihren Entscheidungen inspirieren lassen.

Diesen Mut haben Sie dringend benötigt, um das Schauspiel während Ihrer ersten Jahre in Berlin nicht aufzugeben! Als junge Schauspielschülerin inmitten des Trubels dieser Stadt, in der zu jener Zeit alles möglich war, sind Sie von den Rollen, die Sie spielen sollen, so sehr in den Bann gezogen, dass Ihr eigenes Leben beinahe mit dem Ihrer Figuren verschwimmt …

Kurz nach Ihrem Abschluss zu Beginn der 1990er Jahre setzen Sie Ihre Ausbildung mit wechselnden Auftritten in regionalen Ensembles in Jena, München und der Schweiz fort. Sie brillieren insbesondere in der Rolle von Gretchen in Goethes Faust. Im Laufe dieser ersten Jahre arbeiten Sie bis zur Erschöpfung mit dem schmerzhaften Gefühl, die gesamte Palette der Emotionen, die Sie zu spielen imstande waren, aufgebraucht zu haben.

Da machen Sie eine entscheidende Begegnung mit dem niederländischen Theaterregisseur Johan Simons, der beruhigende Worte mit Ihnen teilt. Er gibt Ihnen den Rat, an die Rollen, die Sie spielen, mit Leichtigkeit und Abstand heranzugehen, um nicht Gefahr zu laufen, Ihre Gefühle mit denen der Figuren zu verwechseln, die Sie verkörpern.

Und das ist ein Glücksfall, denn bei Ihrer ersten Kinorolle verkörpern Sie eine epilepsiekranke Studentin, die glaubt, von einem Dämon besessen zu sein … Dabei tun Sie also gut daran, diese Trennung zu beachten! Dieser Film, Requiem von Hans-Christian Schmid aus dem Jahr 2006, markiert einen Wendepunkt in Ihrer Karriere. Sie liefern ein spektakuläres Kinodebüt ab, das Ihnen zwei internationale Preise einbringt: den Silbernen Bären für die beste Darstellerin bei der 56. Berlinale und den FIPRESCI-Preis.

Ihr außergewöhnliches Schauspieltalent wird nun sehr schnell von Regisseuren und Produzenten erkannt: Mit verblüffender Virtuosität reihen Sie ebenso vielfältige wie abwechslungsreiche Filme und Rollen aneinander. Auch wenn das Kino vollständig Einzug in Ihre Karriere hält, bleiben Sie dem Theater treu und werden mehrfach von der Zeitschrift „Theater heute“ zur „Schauspielerin des Jahres“ gekürt.

Im Kino sehen wir Sie 2008 in Anonyma – Eine Frau in Berlin von Max Färberböck, 2010 unter der Regie von Nanouk Leopold in Brownian Mouvement und vor allem 2011 in Jan Schomburgs Film Über uns das All. Letzterer ist eine echte Offenbarung für das französische Publikum. Sie spielen darin die am Boden zerstörte und zerbrechliche, aber entschlossene Martha. Ihr Spiel ist nüchtern und kraftvoll, bis zu dieser Szene, in der alle verschütteten Emotionen hervorbrechen. Eine meisterhafte Rolle, für die Sie beim Internationalen Filmfestival für junge Regisseure in Saint-Jean-de-Luz mit dem Preis für die beste Schauspielerin ausgezeichnet werden und von der Sie später sagen: „Diese Rolle hat mich erfüllt, denn sie hat es mir endlich ermöglicht, mich von der Idee zu verabschieden, dass der Schauspielberuf auf einer schmerzhaften kathartischen Situation beruhen muss“.

Mit dem Film Amour Fou, einer österreichisch-deutsch-luxemburgischen Koproduktion von Jessica Hausner aus dem Jahr 2014, findet Ihr Können erstmals über die Grenzen Ihres Landes hinaus Verbreitung. Der Film ist im selben Jahr Teil der Auswahl für die Sektion Un Certain Regard in Cannes und ein Vorbote des unglaublichen Erfolges, der mit Toni Erdmann zwei Jahre später an gleicher Stelle auf Sie warten sollte!

Dieser Film von Maren Ade macht 2016 für Sie zu einem sehr erfolgreichen Jahr! Nach der Vorführung feiert Sie das Publikum in Cannes und damit sinnbildlich die gesamte Kinowelt mit Standing Ovations. Ihre Figur Ines, eine Geschäftsfrau mit trockenem Humor, die sich mit dem unreifen Verhalten ihres Vaters konfrontiert sieht, passt hervorragend zum schrägen Ton dieser Fabel über die zeitgenössische Gesellschaft, die unter anderem mit dem FIPRESCI-Preis in Cannes und mit dem Grand Prix der FIPRESCI ausgezeichnet wird.

Ihre fulminante Performance wird in der gesamten Branche gewürdigt, denn Sie erhalten auch den Deutschen Filmpreis 2017 für die beste weibliche Hauptrolle und bereits 2016 den Bayerischen Filmpreis sowie den Europäischen Filmpreis, jeweils in der Kategorie „Beste Darstellerin“.

Mit insgesamt knapp 300 000 Besucherinnen und Besuchern in 240 Kinos in Frankreich hat Toni Erdmann aber auch die Herzen des französischen Publikums erobert, zu dessen Freude Sie heute in zahlreichen deutsch-französischen Koproduktionen zu bewundern sind.

Seit 2019 hatten wir das Vergnügen, Sie auf französischer Seite in Sibyl von Justine Triet neben Virginie Efira und Adèle Exarchopoulos als demiurgische Regisseurin zu sehen, die mit Nachdruck eine Schauspielerin mit fragilem psychologischem Profil anleitet, sowie in Proxima von Alice Winocour als Ärztin, die Eva Green vor ihrer Reise in den Weltraum begleitet. Und wir freuen uns darauf, Sie in diesem Sommer auf beiden Seiten des Rheins in Anatomy of a Fall zu sehen, dem neuen Thriller von Justine Triet, der Liebesgeschichte und polizeiliche Ermittlung miteinander vermischt.

Wie ich eingangs bereits sagte, folgt bei Ihnen Film auf Film mit einem wahnsinnigen Tempo, sodass Ihnen keine Zeit zum Durchatmen bleibt, denn Sie sind derzeit auch im Wettbewerb der 73. Berlinale in der Rolle der Hofdame von Kaiserin Sisi in Sisi & Ich von Regisseurin Frauke Finsterwalder zu sehen, neben Schauspielerin Susanne Wolff, die ich schon unter den Anwesenden erblickt habe und herzlich begrüßen möchte! Ich wünsche Ihnen beiden nur das Beste für diese Berlinale!

Sie genießen in Frankreich wie in Deutschland große Anerkennung für die Präzision, mit der Sie die Emotionen spielen, die uns alle durchdringen, und sind damit, liebe Sandra, eine wahre „Spielwütige“.

Als Ausdruck unserer Wertschätzung und unserer Verbundenheit mit allem, was Sie verkörpern – für das Theater wie für den Film und nicht zuletzt für die europäischen Werte, die Ihnen eigen sind –, habe ich die Ehre, Ihnen, liebe Frau Sandra Hüller, im Namen Frankreichs die Insignien einer Offizierin im Ordre des Arts et des Lettres zu verleihen.

 

Liebe Sandra Hüller, ich verleihe Ihnen die Insignien einer Offizierin im Ordre des Arts et des Lettres.

Von admin