Das schöne deutsche Wort "abendfüllend" wird eigentlich nur in Verbindung mit Filmen benutzt, die eine normale Spielfilmlänge haben. Das ist auch gut so. Reden, zum Beispiel, sollten lieber nicht abendfüllend sein.
Auch diese hier nicht, obwohl sie es sein müsste, wenn ich alles sagen wollte, was zur Würdigung des deutschen Films zu sagen wäre. Ich will mich aber auf einen rhetorischen – nennen wir es – Kurzfilm beschränken, denn es soll ja vor allem das Programm den Abend füllen, mit Film, Diskussion und Gesang und dann der anschließenden Begegnung. Dafür sind Sie alle gekommen und dazu begrüße ich Sie sehr herzlich.
"Mach dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino." Das war, wie viele Ältere noch wissen, einmal ein Werbespruch der westdeutschen Filmtheater. "Mach dir ein paar schöne Stunden": Das trifft eigentlich ziemlich gut, was das Kino von Anfang an versprochen hat: gute – das heißt auch: gut gemachte! – Unterhaltung, eine Staunen erweckende Entführung in eine Welt jenseits des Alltags, eine Reise in Traum und Phantasie, die Eröffnung neuer Räume, ja ganzer Welten.

 
So war es schon, als unter den Händen der Brüder Skladanowsky vor 120 Jahren im Berliner Wintergarten-Varieté die Bilder laufen lernten, damals vor allem Artistik und abgefilmter Rummelplatz, dennoch faszinierend für die Augen der Zuschauer, die so etwas noch nie zuvor gesehen hatten. Und so ist es bis heute geblieben, wenn uns Filme zu einer Reise verführen "bis ans Ende der Welt" oder gar darüber hinaus, etwa beim "Patrouillendienst am Rande der Unendlichkeit", nach dem Motto: "Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein."
Im deutschen Film ist man gerne unterwegs, am liebsten im Auto:
Zum Beispiel über den Asphalt Berlins, mit Hotte Buchholz und anderen Halbstarken.
Oder mit Willi Busch im Kabinenroller die deutsch-deutsche Grenze entlang.
Mit Wolfgang Stumph im Trabbi in die neue Freiheit.
Oder mit Bibiana Beglau und Nadja Uhl in der Stille nach dem Schuss in ein neues Leben.
Mit Theo über die Autobahnen und Landstraßen des Ruhrgebietes und ganz Westeuropas – und allzu oft geht es dabei gegen den Rest der Welt – und nicht nur Elyas M’Barek fragt sich unterwegs immer wieder: Who am I?
Wir werden gleich in einem rasanten Zusammenschnitt an diese und viele andere deutsche Filmfahrten erinnert.
Aber sehr schnell ist der Film, auch schon in den genannten Beispielen, viel mehr geworden als unterhaltsamer Eskapismus. Er ist Auseinandersetzung mit den historischen und politischen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der Zuschauer. Film ist in seinen besten Momenten immer auch buchstäblich "Zeit-Lupe". Er geht ganz nah an die gegenwärtige Wirklichkeit heran oder an eine Vergangenheit, die nicht vergehen darf – ja, er vergrößert sie, bis wir ihr nicht mehr ausweichen können. Auch in diesem Sinne ist Film "bigger than life".
Ich freue mich deswegen, dass es heute – zum ersten Mal im Schloss Bellevue – einen Abend zu Ehren des deutschen Films und aller seiner Macher gibt. Einige von Ihnen sind vor dreieinhalb Jahren schon dabei gewesen, als wir den Film schon einmal exemplarisch mit einem "Heimatabend" für Edgar Reitz geehrt haben.
Vor kurzem ist übrigens die erste "Heimat" nach teuren und aufwendigen Restaurierungsarbeiten neu veröffentlicht worden. So kann man sie jetzt in nie gekannter Brillanz sehen. Das bringt mich dazu, allen zu danken, die sich mit erheblichen finanziellen Mitteln und großer Professionalität der Konservierung und Restaurierung vieler unserer bedrohten Filmschätze widmen. Diese Aufgabe der Rettung eines bedeutenden künstlerischen Erbes wird noch zu wenig gewürdigt. Dabei ist sie beim Film nicht weniger wichtig als zum Beispiel bei Gemälden.
Filmkunst: Das ist in Deutschland ein schwieriger Begriff. So richtig als Kunst wird der Film von vielen noch immer nicht begriffen, zumindest nicht so, wie man sich klassische Gemälde, Sinfonien oder Romane als Kunst vorstellt.
Volker Schlöndorff hat öfter darauf hingewiesen, wie wichtig es wäre, genau wie bei der Literatur, Qualität erkennen zu lernen: Wie werden gute Geschichten ins Bild gesetzt? Wie funktionieren Dialoge? Warum eröffnet uns dieser Schnitt einen unerhörten Blick, warum bedient jener Schwenk dagegen nur bekannte Klischees? Wo und wie unterstützt welche Musik die filmische Aussage?
Gerade heute, wo durch DVD oder Download ein Film unendlich viel leichter zugänglich ist als noch vor zehn Jahren, wünscht man sich mehr moderne Filmpädagogik. Sie könnte helfen, auch dort Qualität zu erkennen, wo Grenzen zu anderen Medien- und Kunstformen überschritten werden.
Oberflächliche von reflektierter Darstellung zu unterscheiden oder angemessenes Pathos von Effekthascherei: Das ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil der sogenannten Medienkompetenz, das gehört in Wirklichkeit auch schon zur politischen Bildung. Denn wer zu sehen gelernt hat, welche Gesten stimmig sind und welche Erzählweisen überzeugend – und warum! –, der hat nicht nur filmästhetisch, der hat auch politisch Wesentliches begriffen.
Apropos Film und Politik: Das ist in der Geschichte, auch in der deutschen, nicht selten eine heikle Beziehung gewesen. Film hat die Macht, argumentlos zu überwältigen, Gefühle zu manipulieren, Stimmungen zu erzeugen oder massiv zu verstärken. Und er hat andererseits die kritische oder sogar subversive Kraft, Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse zu entlarven, Lüge und Verblendung aufzudecken, manchmal in einer einzigen Szene.
So ist der Film, wir wissen es, gleich zweimal in der deutschen Geschichte Instrument staatlicher Propaganda geworden, mit teilweise immensem Aufwand – mit einem absurden Höhepunkt in "Kolberg". Auf der anderen Seite war er oft genug Opfer von Zensur und Verboten. Wenn wir gleich in der filmischen Collage kurz die "Die Spur der Steine" sehen, erinnern wir uns an in unserem Land hoffentlich für immer vergangene Zustände. Wir denken natürlich auch daran, in wie vielen Teilen der Welt Film – und Kunst überhaupt – noch immer oder schon wieder instrumentalisiert, zensiert oder verboten wird. Und dass wir uns, wo und wie wir können, für eine Veränderung solcher Zustände einsetzen müssen.
Um ein Buch zu schreiben, kommt man notfalls mit Papier und Stift aus. Um aber einen Film zu machen, braucht es sehr viel mehr. Dazu braucht es erst einmal viel Geld – und woher das in Deutschland kommt und woher das kommen sollte und wohin es gehen oder besser nicht gehen sollte, darüber gibt es immer wieder viele Debatten, die auch nötig sind, aus denen ich mich aber zum Glück schon von Amts wegen heraushalten muss.
Es braucht aber vor allem eine ganze Menge Mitwirkende. Neben den Schauspielern und Regisseuren gehören dazu Drehbuch- und Dialogautoren, Kameraleute, Caster, Cutter, Bild- und Kostümausstatter, Beleuchter, Toningenieure, Produzenten, Redakteure, Locationscouts. Ich weiß, dass ich noch viele andere nennen müsste. Ich will auch die nicht vergessen, die dafür sorgen, dass die fertigen Filme ihr Publikum finden, die Veranstalter von Festivals, die engagierten Kinobetreiber, die leidenschaftlichen Filmjournalisten.
Der Film ist also jedes Mal nicht nur das Wunder, das aus dem kreativen Gedankenblitz eines einsamen Genies entsteht, sondern vor allem das Gemeinschaftswerk von vielen Individualisten und Spezialisten, die dann aber oft nur für Sekunden im Abspann auftauchen. Ich freue mich deswegen, dass wir heute Abend eine bunte Mischung von Könnern eingeladen haben – Sie, liebe Gäste, sind eigentlich alle "Filmstars".
Wir Zuschauerinnen und Zuschauer sind Ihnen allen sehr dankbar, wenn Sie uns alle gemeinsam verzaubern und nachdenklich machen, in andere Welten entführen oder uns mit der Welt konfrontieren, wie sie ist, wie wir sie aber oft nicht von selber sehen können oder wollen. Wir brauchen beides. Und Sie brauchen dafür Mut und Abenteuerlust, denn wir erwarten bitte wenigstens von Zeit zu Zeit das Außergewöhnliche, das nicht nur den Abend füllt, sondern uns nachgeht, erschüttert, verändert.
In der DEFA-Produktion "Solo Sunny" von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase, die in den 1980er Jahren ein gesamtdeutscher Erfolg war, gibt es einen ganz kurzen Dialog, den wohl nicht nur Andreas Dresen für einen der besten im deutschen Film hält:
Sunny will morgens ihren nächtlichen Liebhaber rasch wieder loswerden und sagt beim Öffnen der Fenstervorhänge wie nebenbei:
"Is’ ohne Frühstück!"
Als der Mann anfängt, etwas einzuwenden, sagt sie knapp:
"Is’ auch ohne Diskussion!"
Bei uns gilt heute Abend: Is‘ mit Essen und Trinken – und is‘ auch mit Diskussion.
Damit meine ich: mit hoffentlich vielen guten Gesprächen und Begegnungen.
In diesem Sinne noch einmal: Herzlich Willkommen und viel Vergnügen!

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Von admin

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