Die American Academy in Berlin hat  den Henry A. Kissinger-Preis 2023 an Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nordatlantikpakt-Organisation verliehen. Die Preisverleihung fand am Abend des Freitags, 10. November 2023, statt. Laudatoren werden der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Frank-Walter Steinmeier, und die emeritierte Sprecherin des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, Nancy Pelosi, halten. Der Henry A. Kissinger-Preis 2023 wird großzügig mit Haupt- und Präsentationssponsoren von Bloomberg Philanthropies und der Mercedes-Benz Group AG finanziert; Unterstützendes Sponsoring wird von der Bank of America, der Bayer AG, Clayton, Dubilier & Rice LLC und der Microsoft Corporation bereitgestellt. Weitere Mittel werden von der Deutschen Bank AG, der Fresenius SE & Co. KGaA und der Robert Bosch GmbH bereitgestellt.

Jens Stoltenbergs Beiträge zum Atlantischen Bündnis, zu Norwegen und zur internationalen Gemeinschaft sind unzählbar, da er nach zwei Ministerposten fast ein Jahrzehnt lang norwegischer Premierminister war und nun zum zehnten Mal Generalsekretär des Nordatlantikvertrags ist Organisation. Gerade aufgrund dieser aktuellen Position würdigt die American Academy die historische Rolle, die Stoltenberg dabei gespielt hat, NATO-Mitglieder für die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression zu gewinnen. Zusätzlich zu seiner Arbeit für die Verteidigung der Freiheit in der Ukraine hat der Generalsekretär in mehreren Runden der NATO-Mitgliedschaftserweiterung bemerkenswertes diplomatisches Geschick und Entschlossenheit unter Beweis gestellt. Für seine unermüdlichen Bemühungen, unsere Gemeinschaft der Demokratien zu erhalten und zu stärken und ihre Grundwerte voranzutreiben, ist die American Academy stolz, Jens Stoltenberg mit dem Henry A. Kissinger-Preis 2023 auszuzeichnen.

Der Henry A. Kissinger-Preis wurde zu Ehren des Gründungsvorsitzenden der American Academy in Berlin ins Leben gerufen. Bisherige Preisträger sind: Bundeskanzler aD Helmut Schmidt (2007); einundvierzigster Präsident der Vereinigten Staaten George H.W. Bush (2008); ehemaliger Bundespräsident Richard von Weizsäcker (2009); Wirtschaftsführer, Philanthrop und ehemaliger New Yorker Bürgermeister Michael R. Bloomberg (2010); ehemaliger deutscher Bundeskanzler Helmut Kohl (2011); ehemaliger US-Außenminister George P. Shultz (2012); Gründer der Münchner Sicherheitskonferenz Ewald-Heinrich von Kleist (posthum, 2013); ehemaliger US-Außenminister James A. Baker, III (2014); ehemaliger italienischer Präsident Giorgio Napolitano und ehemaliger deutscher Außenminister Hans-Dietrich Genscher (2015); ehemalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen Samantha Power (2016); ehemaliger deutscher Finanzminister Wolfgang Schäuble (2018); US-Senator John McCain (2018); Bundeskanzlerin Angela Merkel (2020); ehemaliger US-Verteidigungsminister James N. Mattis (2021); und der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (2022).

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeierb ei der Verleihung des Henry-A.-Kissinger-Preises anNATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 10. November 2023i n Berlin

Ich habe beschlossen, meine kurze Ansprache auf Englisch zu halten – nicht nur, weil wir bei der American Academy sind und dies ein transatlantischer Anlass ist. Sondern vor allem, lieber Jens, weil ich Dich von einer lebenslangen Last befreien möchte, die Dir hier in meinem Land Deutschland zugemutet wird. Wie Du weißt, hast Du in Deutschland viele Freunde, viele Bewunderer: in der Politik, beim Militär, in den Medien, in der Wirtschaft. Aber – was soll ich sagen – unsere Sprache ist nicht immer die eleganteste. Ich spreche heute Abend also mit Bedacht Englisch und werde darauf achten, den diesjährigen Henry-A.­Kissinger-Preisträger Jens S-toltenberg zu ehren – und nicht, wie wir Deutsche gern sagen: Jens Sch-toltenberg.

Als ich mich auf diese besondere Veranstaltung heute Abend vorbereitet habe, kamen mir Denkmäler in den Sinn. Zuallererst dachte ich an das lebende Denkmal, in dessen Namen wir heute Abend hier versammelt sind. Den Zeitzeugen eines Jahrhunderts, die treibende geistige Kraft hinter Jahrzehnten der US-Außenpolitik, den Hüter der transatlantischen Beziehungen: Henry Kissinger. Henry war zu seinem Geburtstag im Juni in Deutschland, und es hat mich sehr berührt, zu sehen, dass dieses Land, sein Heimatland, das ihn einst vertrieben hatte, für ihn nun wieder „ein Flecken Heimat“ geworden ist. Ich bin sicher, wir alle hier senden ihm von Herzen unsere besten Wünsche nach New York!

Daneben habe ich heute Abend drei weitere Denkmäler vor Augen, und zwar drei echte steinerne Denkmäler – eines in New York, eines in Oslo und eines in Berlin.

In der Upper West Side von New York blickt Carl Schurz über den Morningside Park und die Dächer von Central Harlem – Carl Schurz, der 1848 als Revolutionär für Freiheit und Demokratie in Deutschland

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kämpfte, in die USA emigrierte und zu einem der engsten Berater und Kampfgefährten von Abraham Lincoln wurde.

In Oslo, lieber Jens, Deiner Heimatstadt, sitzt Franklin Delano Roosevelt auf einem steinernen Stuhl am Meer und beobachtet die vorbeiziehenden Fähren im Hafen. F. D. R., der nicht nur viele Norwegerinnen und Norweger zum Kampf gegen die deutsche Besatzung inspirierte, sondern der die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg führte, um Europa vom Terror der Nazis zu befreien.

Und hier in Berlin ragt aus dem Verkehrslärm des Mehringdamms das Luftbrückendenkmal. Es erinnert uns an die visionäre Kraft und den Mut von Harry Truman, Gail Halvorsen und vielen anderen, die den Berlinerinnen und Berlinern während der Blockade Westberlins zu Hilfe eilten und den Grundstein legten für die Gründung der NATO im Frühjahr 1949.

Ich erwähne diese Denkmäler, um daran zu erinnern, worum es beim Henry-A.-Kissinger-Preis eigentlich geht. Was wir heute hier würdigen, woran wir als transatlantische Gemeinschaft glauben, und wofür wir Jens Stoltenberg ehren, das ist viel größer, viel älter und viel tiefer als die aktuellen Schlagzeilen von heute. Es ist die Vision von Freiheit und Demokratie für unsere Nationen, von Sicherheit und Partnerschaft in unserem Bündnis, von Frieden und Stabilität in der Welt um uns herum.

Nichts davon war jemals selbstverständlich. Nicht früher und nicht heute. Jeder der Wegbereiter, die ich genannt habe, hat für diese Vision in Zeiten existenzieller Gefahr gekämpft. Und Du, lieber Jens, kämpfst für diese Vision zum kritischsten Zeitpunkt seit dem Kalten Krieg. Der Krieg ist auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt, und die NATO steht in der Verantwortung, nahezu eine Milliarde Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks zu beschützen. In den zehn Jahren mit Dir an der Spitze ist die NATO um drei Mitgliedstaaten gewachsen – und ich bin sicher und ich hoffe, bald werden es vier sein. Du hast unser militärisches Dispositiv von der Ostsee bis ins Schwarze Meer gestärkt, und nicht zuletzt hast Du Putin eines Besseren belehrt! Als Putin vor mehr als 20 Monaten in die Ukraine einfiel, dachte er, dass der Westen schwach und gespalten sei. Du, lieber Jens, hast dafür gesorgt, dass die NATO im Angesicht von Putins Krieg stärker und geeinter ist denn je! Und dafür sind wir Dir wirklich sehr dankbar.

Was macht die von mir genannten Wegbereiter zu herausragenden Wegbereitern? Haben Sie die Stürme heraufziehen sehen? Wussten sie, wie sie sie überstehen können?

Wusste Carl Schurz bei seiner Ankunft an den Gestaden Amerikas 1852, dass die junge Republik bald von Bürgerkrieg erschüttert werden würde?

Wusste Roosevelt von der drohenden Gefahr für Europa und die Welt, als Hitler und seine Braunhemden begannen, durch München zu marschieren?

Wusste Jens Stoltenberg, dass Wladimir Putin am 24. Februar tatsächlich eine Großinvasion starten und die Ukraine und unseren ganzen Kontinent in einen Abgrund stürzen würde, den wir längst überwunden glaubten?

Oder, wenn wir nur einen Monat zurückdenken, hat irgendjemand von uns den barbarischen Angriff der Hamas auf Israel, auf Großeltern, Eltern und Kinder, auf tanzende junge Menschen bei einem Festival vorhergesehen?

Nein. Führung ist keine Hellseherei. Keiner dieser Wegbereiter wusste, was die Geschichte ihnen abverlangen würde. Aber sie sind der Aufgabe gerecht geworden. Sie sind den gewaltigen Anforderungen ihrer Zeit gerecht geworden. Dasselbe gilt für Jens Stoltenberg. Lieber Jens, Du standest in Zeiten monumentaler Herausforderung an der Spitze der NATO und Du bist ihnen gerecht geworden.

Ich kann mich noch genau erinnern: Als Du und ich uns vor gut 16 Jahren über unseren wunderbaren Freund Jonas Gahr Støre kennenlernten, diskutierten wir darüber, wie man Europa als Ganzes sicherer machen könnte, auf der Grundlage gemeinsamer Werte, Regeln und Grundsätze, und in diesen Tagen auf der Grundlage der Visionen von Helsinki und Paris. Doch ich entsinne mich auch: Als Du vor knapp zehn Jahren Generalsekretär wurdest, hatte sich viel, wirklich sehr viel verändert. Russland hatte gerade die Krim annektiert und setzte die Eskalation und Destabilisierung im Donbas fort. Wir wussten, dass wir darauf mit Stärke reagieren mussten. Wir wussten, dass es mit diesem immer aggressiver auftretenden Russland keinen Dialog ohne Abschreckung geben könnte. Also haben wir auf Deinem ersten Gipfel in Wales die Ostflanke und unseren osteuropäischen Bündnispartnern mit einem „Readiness Action Plan“ den Rücken gestärkt; und wir haben uns zum ersten Mal als Bündnis zum Zwei-Prozent-Ziel bei den nationalen Verteidigungsausgaben bekannt. Eine Entscheidung, für die wir als damalige Bundesregierung zu jener Zeit zuhause nicht unbedingt gelobt wurden. Als Du 2014 ernannt wurdest, erinnere ich mich, dass ich als damaliger Außenminister in einer Pressemitteilung erklärte, Du als Generalsekretär seist „die beste Wahl, die ich mir vorstellen kann“. Und zehn Jahre später möchte ich dies mit noch größerer Überzeugung wiederholen. Du steuerst unser Bündnis durch den Sturm, und Du wirst dafür sorgen, dass es stark aus ihm hervorgeht! Du, lieber Jens, warst wahrlich die beste Wahl!

Stürme gab es viele in den vergangenen Jahren. Die jüngste Vergangenheit hat uns gelehrt, dass Geschichte nicht linear ist. Sie ist bestenfalls kurvig. Doch Du, Jens, wusstest, dass wir vorbereitet sein müssen auf die Kurven. Du hast ins Ungewisse vorausgedacht und die NATO auf diese Reise mitgenommen. Während Deiner Amtszeit wurde die NATO mehr als einmal als obsolet und sogar als hirntot bezeichnet, und mehr als einmal hast Du dies widerlegt. Du wusstest, dass Wandel bevorsteht – und Du hast Dich dem Wandel gestellt. Von Cyber bis hin zu China, von Syrien bis hin zu Afghanistan: Du hast das Bündnis durch Veränderungen, Krisen und erbitterte Kontroversen gesteuert. Ich glaube, niemand kann eine eindrücklichere Schilderung des Gipfels von 2018 geben als Du. Ich habe gehört, Dein diplomatisches Geschick wurde auf eine sehr harte Probe gestellt.

Und auch jetzt denkst Du wieder einmal ins Ungewisse voraus. Du machst Dir Gedanken über die Sicherheit der Ukraine nach dem Krieg und über den Gipfel in Washington, der aus mindestens zwei Gründen historisch sein wird: Er markiert das 75-jährige Bestehen der NATO, und, sofern die Realität Deinem Wunsch folgt, dann ist er der letzte Gipfel mit Dir als Generalsekretär.

Vorausdenken, lieber Jens, sollten wir alle! Natürlich schauen wir alle auf die US-Wahlen im kommenden Jahr. Natürlich müssen wir vorbereitet sein – und ehrlicherweise müssen wir besser vorbereitet sein als in der Vergangenheit. Aber Vorausdenken bedeutet, über den November 2024 hinauszudenken. Es bedeutet, unseren Teil als Deutsche, als Europäer dafür zu tun, um unser Bündnis stark zu halten – was auch immer geschieht. Es gibt viele gute Gründe – jenseits von Wahlergebnissen – einzulösen, was wir versprochen haben: zwei Prozent für Verteidigung auszugeben, verlässlich und nachhaltig; die Europäische Säule in der NATO zu stärken; und, Herr Botschafter, an der Seite der Ukraine zu sein, solange es nötig ist!

Als ich Präsident Biden vor einem Monat im Weißen Haus besuchte, sagte ich ihm, was für ein Glücksfall es sei, dass diese US-Regierung in diesen Kriegszeiten an der Seite Europas steht und alles dafür tut, damit unser Bündnis weiterhin stark und geeint ist. Wir in Deutschland, wir in Europa müssen und werden unseren Teil beitragen, damit dies so bleibt. Komme, was wolle!

Ein letzter Gedanke zum Thema Führungsstärke: Der Geschichte gerecht zu werden, bedeutet nicht nur vorausdenken, das Richtige tun, die richtigen Worte finden. Nein, es ist viel persönlicher. Es bedeutet, da zu sein. Ganz dabei zu sein. Führungsstärke beginnt nicht mit Härte. Sie beginnt mit Empathie.

Lieber Jens, ich glaube, ich habe das nirgendwo eindrucksvoller gesehen als auf Utøya. Du warst für die jungen Menschen da, Du warst für Dein Land da. Es war dasselbe Utøya, dasselbe Jugendferienlager, wo Du seit 1974 jeden Sommer verbracht hast, als Student der Wirtschaftswissenschaften, der eine Karriere als Statistiker anstrebte – nichtsahnend, dass Du einmal an der Spitze Deines eigenen Landes, geschweige denn des mächtigsten Militärbündnisses der Welt stehen würdest.

Utøya, der „schönste Ort der Welt“, wie Du einmal sagtest, wurde 2011 vom einem brutalen, hasserfüllten Terroristen heimgesucht, der 77 Menschen tötete, die meisten von ihnen junge Menschen, die sich anschickten, eine bessere Welt zu schaffen – so wie Du und Deine Freunde in den Jahren zuvor. Deine Rede nach dem Blutbad von Utøya hat einen tiefen Eindruck hinterlassen – und auch heute denke ich daran. In Deiner Rede ging es nicht um militärische Gewalt, es ging nicht um Rache. Es ging um Werte. Darum, wer wir sind. Du sagtest: Unsere Reaktion ist noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, noch mehr Menschlichkeit.

Lieber Jens, in einer Zeit, in der unsere Einigkeit, unser Ideal des friedlichen Miteinanders in einer vielfältigen Gesellschaft jeden Tag in unseren westlichen Demokratien auf die Probe gestellt wird, ist Deine Rede, ist Dein Vorbild eine Inspiration für uns alle. Ja, diese Rede, dieses Vorbild steht für eben jene Vision, die das Herzstück unseres transatlantischen Bündnisses bildet.

Im Jahr 2019 besuchtest Du Washington und hieltst auf Einladung der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi eine historische Rede vor beiden Kammern des US-amerikanischen Parlaments. Darin sagtest Du: Da wir die Zukunft nicht vorhersehen können, müssen wir auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein. Wir brauchen eine Strategie, um mit Unsicherheit umzugehen. Eine solche haben wir. Die Strategie lautet NATO.

Lieber Jens, Du hast dafür gesorgt, dass die NATO tatsächlich diese Strategie ist. Du hast unser Bündnis für die enormen Veränderungen unserer Zeit gerüstet. Du hast die NATO für die Zukunft gerüstet.

Mein lieber Freund Jens, herzlichen Glückwunsch zum Henry-A.­Kissinger-Preis!

Von admin