Deutsche lehnen militärische Führungsrolle in Europa ab
Umfrage der Körber-Stiftung zeigt: Bundesbürger wünschen sich internationale Zurückhaltung
Eine Mehrheit der Bundesbürger:innen (52 Prozent) wünscht sich weiterhin mehr internationale Zurückhaltung von Deutschland. 41 Prozent der Befragten befürworten hingegen ein stärkeres Engagement Deutschlands – dieses Engagement sollte jedoch bevorzugt diplomatisch (65 Prozent) statt militärisch (14 Prozent) oder finanziell (13 Prozent) sein. Damit hat sich die Einstellung der Deutschen im Vergleich zum Vorjahr (2021: 50 Prozent für Zurückhaltung) kaum verändert – ungeachtet des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Zwar lehnen auch 68 Prozent der Bevölkerung eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa ab, zugleich besteht aber die Bereitschaft, die eigenen militärische Kapazitäten auszubauen: 60 Prozent der Befragten befürworten dauerhaft höhere Verteidigungsausgaben.
Das ist das Ergebnis der repräsentativen Umfrage „The Berlin Pulse“ (PDF) der Körber-Stiftung, durchgeführt vom Meinungsforschungsinstitut Kantar Public im August 2022.
„Die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende ist in den Köpfen der Deutschen noch nicht angekommen“, kommentiert Nora Müller, Leiterin des Bereichs Internationale Politik der Körber-Stiftung, die Umfrageergebnisse. „Auch angesichts der massiven Verschlechterung unseres sicherheitspolitischen Umfelds durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzt eine Mehrheit der Bundesbürger:innen nach wie vor auf Zurückhaltung, vor allem im militärischen Bereich.“
Deutsche sorgen sich um Ausweitung des Krieges
Mehr als zwei Drittel (69 Prozent) der Deutschen sorgen sich vor einem russischen Atomschlag, 80 Prozent vor einer Ausweitung des Krieges auf das NATO-Bündnisgebiet. Darüber hinaus sehen 72 Prozent in Russland eine militärische Bedrohung für Deutschlands Sicherheit. In den USA ist die Bedrohungswahrnehmung weitaus ausgeprägter. 92 Prozent der US-Amerikaner:innen sehen in Russland eine militärische Bedrohung für ihr Land. Das zeigt die parallel vom Pew Research Center durchgeführte Studie in den USA.
Gefragt nach den derzeit größten Herausforderungen für die deutsche Außenpolitik wird die Ukraine mit 45 Prozent am häufigsten genannt; weitere 10 Prozent der Nennungen entfallen auf Russland und Putin als größte Herausforderung.
Energie wird zum geopolitischen Faktor
Die Energiekrise wird von den Bundesbürger:innen am zweithäufigsten als größte Herausforderung für Deutschlands Außenpolitik gesehen (20 Prozent der Nennungen). 60 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass in Europa derzeit nicht genug getan werde, um unabhängig von russischen Energielieferungen zu werden. Die Energiepolitik wird somit aus Sicht der Deutschen immer mehr zu einem geopolitischen Faktor.
Dennoch ist es für die Mehrheit der Deutschen unerheblich, woher die Energie zur Produktion von Strom und anderen Erzeugnissen stammt. 55 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass diese von allen Staaten bezogen werden sollte, 38 Prozent wollen Energie nur von demokratischen Staaten beziehen.
Transatlantische Beziehungen weiter auf Erfolgskurs
Der positive Trend in den transatlantischen Beziehungen setzt sich fast zwei Jahre nach dem Amtsantritt von US-Präsident Biden fort. Deutsche und US-Amerikaner:innen bewerten die Beziehungen durchweg als sehr positiv. Eine klare Mehrheit der US-Bürger:innen (81 Prozent) bewertet die deutsch-amerikanischen Beziehungen als „gut“ oder „sehr gut“. Aus deutscher Sicht erreicht die Bewertung den besten Wert seit 2017: 82 Prozent der Deutschen sehen das transatlantische Verhältnis in einem „guten“ oder „sehr guten“ Zustand. Noch im Jahr 2020 teilten nur 18 Prozent diese Einschätzung. Die USA bleiben außerdem der wichtigste Partner für die Deutschen (36%), noch vor Frankreich (32%). Vor allem beim Schutz und der Verteidigung Europas, zum Beispiel im Rahmen der NATO, sehen 81 Prozent der Befragten die USA als Partner. Im Vorjahr lag der Wert noch bei 73 Prozent. Die Unterstützung der USA gegenüber der Ukraine könnte ein Grund für diesen Zuwachs sein.
China als wachsende Bedrohung
Nicht nur der russische Angriffskrieg und Energiethemen beschäftigen die deutsche Bevölkerung, auch der wachsende Einfluss Chinas wird von immer mehr Deutschen (59 Prozent) negativ bewertet, nur 7 Prozent sehen diesen als positiv. In den ostdeutschen Bundesländern ist eine neutrale Haltung deutlich stärker verbreitet (43 Prozent) als im westlichen Teil Deutschlands (29 Prozent).
Passend zur Sorge um Chinas globalen Einfluss sind rund zwei Drittel der Deutschen (66 Prozent) dafür, sich von China unabhängig zu machen, auch wenn dies zu wirtschaftlichen Einbußen führt.
Die Skepsis gegenüber Peking spiegelt sich allerdings nicht in einer handfesten Bedrohungswahrnehmung wider: 42 Prozent sehen China als militärische Bedrohung für Deutschlands Sicherheit. Anders in den USA: Hier sehen 90 Prozent in China eine militärische Bedrohung für die Sicherheit der USA.
Feministische Außenpolitik – ein verheißungsvoller Ansatz für europäische und deutsche Sicherheit?
Mit der Festsetzung einer „Feminist Foreign Policy“ im Koalitionsvertrag könnte Deutschland international zu einem Vorbild für diesen außenpolitischen Ansatz werden. Ein Blick auf die Umfrageergebnisse zeigt jedoch, dass eine Mehrheit der Deutschen (62 Prozent) den Begriff noch nie gehört hat oder zumindest nicht weiß, was er bedeutet.
Die Umfrage
Kantar Public hat im Auftrag der Körber-Stiftung im August 1.088 Wahlberechtigte ab 18 Jahren in Deutschland zu ihren außenpolitischen Einstellungen befragt. Alle US-Daten wurden durch das Pew Research Center im Juli und August 2022 erhoben.
Alle Ergebnisse, Tabellen, Grafiken und weitere Hinweise zur Erhebung ab 17. Oktober, 17:00 Uhr online verfügbar unter: www.theberlinpulse.org.
The Berlin Pulse
Die Publikation „The Berlin Pulse“ der Körber-Stiftung stellt internationale Erwartungen hochrangiger Autor:innen an deutsche Außenpolitik den außenpolitischen Einstellungen der Deutschen auf Basis einer repräsentativen Umfrage gegenüber. Unter den Autor:innen der sechsten Ausgabe sind Jens Stoltenberg, Roberta Metsola, Fiona Hill und Jacek Czaputowicz.