„Europa in der Zeitenwende“: Unter diesem Motto diskutierten auf dem Wirtschaftstag 2016 in Berlin mehr als 3000 geladene Gäste die Herausforderungen für den europäischen Kontinent in stürmischen Zeiten. Eine breite Palette wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Querschnittsthemen prägte auch dieses Jahr die intensiven Diskussionen der hochrangigen Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Die Zukunft Europas, die Chancen der Digitalisierung, die Eckpunkte einer wettbewerbsfähigen Energiepolitik, die Erfordernisse der Mobilität von morgen, Antworten auf Flüchtlingsmigration sowie demografischer Wandel waren die Kernthemen des Wirtschaftstages 2016. Ein wichtiges Fazit: Freiheit, Soziale Marktwirtschaft und offene Binnenmärkte sind Grundvoraussetzungen für den Erhalt von Wohlstand, Arbeitsplätzen und demokratischen Errungenschaften auf dem europäischen Kontinent. Der Wirtschaftsrat appellierte deshalb an die Politik, sich auf die Grundregeln der Sozialen Marktwirtschaft zurückzubesinnen. Denn soziale Sicherheit braucht wirtschaftlichen Erfolg. Es gilt, eine grundlegende Maxime wieder ins Bewusstsein zu rücken: Nur, was vorher erwirtschaftet wurde, kann anschließend auch verteilt werden.
„Wir brauchen ein starkes, geeintes Europa, in dem Deutschland eine wichtige Rolle spielt“, betonte Werner M. Bahlsen, Präsident des Wirtschaftsrates der CDU e.V., zum Auftakt des Wirtschaftstags. „Deutschland und Europa müssen wieder zu ihren Grundsätzen und Regeln zurückkehren. Europa taumelt von Krise zu Krise, Europa muss wieder in einen Gestaltungsmodus zurückkehren.“ Die Europäische Union müsse deshalb dringend neu gedacht und gestärkt werden. „Die Vertrauenskrise in Europa können wir nur überwinden, wenn wir für mehr Wachstum sorgen.“
Den Voraussetzungen für einen neuen Zusammenhalt in Europa ging Jeroen Dijsselbloem, Vorsitzender der Euro-Gruppe und Minister für Finanzen, Königreich der Niederlande, in seinem Vortrag auf den Grund: „Wir sollten nicht auf die nächste Krise warten, sondern jetzt die fundamentalen Rahmenbedingungen in Europa stärken“, riet Dijsselbloem. „Politiker überall in der EU haben seit der Krise bereits große Anstrengungen unternommen.“ Gleichwohl müsse die EU weiter engagiert an einem soliden Ordnungsrahmen zur Bewältigung wirtschaftlicher Schocks arbeiten. Dijsselbloem mahnte, vor einer Erweiterung der EU müsse sowohl mehr wirtschaftliche als auch politische Konvergenz stehen.
Mit der Fragstellung „Mehr oder weniger Integration?“ befasste sich Dr. Wolfgang Schäuble MdB, Bundesminister der Finanzen. Sein Resümee: „Wir haben weltweit das Problem, dass wir uns zu sehr auf Geld- und Fiskalpolitik konzentrieren. Wir müssen jedoch darauf achten, ordnungspolitische Strukturreformen anzugehen und keine Fehlanreize zu setzen.“ Europa sei in keiner guten Verfassung, mahnte Schäuble. „Wenn wir unsere Probleme lösen wollen, dann brauchen wir ein stärkeres und handlungsfähigeres Europa. Europa leistet, was die Mitgliedstaaten allein nicht leisten können."
John Cryan, Vorsitzender des Vorstands, Deutsche Bank AG, machte auf die Bedeutung stabiler Finanzmärkte für Europa aufmerksam. Banken und Politik sind hier in gemeinsamer Verantwortung. „Das Vertrauen, das in der Finanzkrise verloren gegangen ist, müssen wir mühsam wieder aufbauen. Es liegt mir sehr am Herzen, dass wir als Banker unser Verhältnis zur Gesellschaft und Politik wieder verbessern“, unterstrich Cryan. „Dabei sind wir Banken in der Pflicht. Wir müssen noch stabiler werden, damit wir künftige Krisen ohne die Hilfe des Staates überstehen.“
Die Bedeutung der deutsch-französischen Achse als Motor für die europäische Einigung hob Nicolas Sarkozy, Staatspräsident der Französischen Republik a.D., Vorsitzender, Les Républicains, hervor. „Adenauer und de Gaulle haben eine Friedensordnung für Europa geschaffen. Weder Deutschland noch Frankreich können Europa allein führen. Das können nur unsere beiden Länder gemeinsam. Führung in Europa ist kein Recht, sondern eine Pflicht – unsere Zusammenarbeit ist keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit“, betonte Sarkozy. Deutschland und Frankreich sollten einen neuen Vertrag für Europa entwerfen, der die Sorgen der Menschen aufnehme, forderte der frühere französische Staatspräsident.
In den anschließenden Diskussionen auf vier hochrangig besetzten Podien wurden die Fragen zur Zukunft Europas mit unterschiedlichen Schwerpunkten vertieft.
Auf „Podium I: Digitaler Binnenmarkt – Chance für Industrie und Mittelstand“ erörterte der Impulsreferent Günther H. Oettinger, Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Europäische Kommission, die Voraussetzung für künftiges Wachstum. „Europa wird seine führende Rolle in der Welt nur dann verteidigen können, wenn die Digitalisierung der Industrie erfolgreich und schnell verläuft. Wir benötigen einen gemeinsamen Ansatz, um Investitionen in Europas Digitalökonomie zu mobilisieren.“
Ulf Ewaldsson, Senior Vice President and Group CTO, Ericsson, wies auf das enorme Potenzial von schnellen 5G-Netzen hin, wie diese völlig neue digitale Dienstleistungen ermöglichten. „Wir haben festgestellt, dass IKT für viele Unternehmen ganz besonders wichtig wird, um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten“, betonte Ewaldsson.
Prof. Dr. Norbert Winkeljohann,
Sprecher des Vorstands, PricewaterhouseCoopers AG WPG, unterstrich die fundamentale Bedeutung der digitalen Transformation. „Das Netz verändert alles. Die Industrie 4.0 ist global voll in der Implementierung angekommen. Geschäftsprozesse und -modelle werden von Grund auf neu gedacht.“
Ebenfalls auf Podium I diskutierten: Sabine Bendiek, Vorsitzende der Geschäftsführung, Microsoft Deutschland GmbH; Lutz Diederichs, Mitglied des Vorstands, HypoVereinsbank; Dr. Michael Mertin, Vorsitzender des Vorstands, JENOPTIK AG; Dr. Till Reuter, Vorsitzender des Vorstands, KUKA AG; Rüdiger Stroh, CEO, NXP Semiconductors Germany GmbH; Moderator: Prof. Dr. Michael Klein, Generalsekretär, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V.
Podium II rückte die Herkulesaufgaben für Europa in den Mittelpunkt: Flüchtlingskrise, Nullzins, Bevölkerungsalterung. Peter Altmaier MdB, Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, machte wie der Wirtschaftsrat auf die Grundbedingung für die Funktionsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme aufmerksam: „Ich kenne weltweit keine Industrienation, die ohne wirtschaftliches Wachstum sozialen Wohlstand sichern kann.“ Nach Einschätzung Altmaiers lässt sich der Flüchtlingsstrom ohne größere Verwerfungen in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren. Dennoch: Auch Flüchtlinge lösten nicht das Demografieproblem, warnte der Chef des Bundeskanzlersamts. Dr. Markus Rieß, Vorsitzender des Vorstands, ERGO Versicherungsgruppe AG, wies auf die weit reichenden Veränderungen bei der Alterssicherung durch den demographischen Wandel hin. „Selbst wenn die Zuwanderung gelingt, löst es das demografische Problem nicht, weil Rentner immer älter werden“, betonte Rieß. Sein Vorschlag: Längere Lebensarbeitszeit und Förderung der privaten Altersvorsorge, etwa durch eine höhere Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge.
Weitere Teilnehmer des Podiums II: Michael Dreibrodt, Vorsitzender des Vorstands, myLife Lebensversicherung AG; Dr. Carsten Linnemann MdB, Bundesvorsitzender, Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT); Jens Jennissen, Gründer und Geschäftsführer, Fairr.de; Prof. Hans Helmut Schetter, Vizepräsident, Wirtschaftsrat der CDU e.V.; Evi C. Vogl, Vorsitzende der Geschäftsleitung, Pioneer Investments Kapitalanlagegesellschaft mbH; Roland Weber, Mitglied des Vorstands, Debeka Krankenversicherungsverein a.G.; Moderatorin: Margaret Heckel, Autorin
Auf Podium III wurden die marktwirtschaftlichen Weichenstellungen für einen starken Energie- und Industriestandort intensiv in den Blick genommen.
Herbert Reul MdEP, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe, schlug vor, den Handel mit CO2-Zertifikaten zugunsten der Industrie zu modifizieren. „Der einfachste Weg wäre, den Anteil der Zertifikate zu verändern. Man muss einfach den Mut haben und einen Teil der Zertifikate, den die Staaten bekommen, in den Bereich der Industrie geben“, sagte Reul. „Und schon wäre die ganze Sache entspannt und allen Interessen gedient.“
Dr. Klaus Engel, Vorsitzender des Vorstands, Evonik Industries AG, betonte: „Wir stellen uns den Herausforderungen und nutzen auch die Chancen, die der Energiewendestandort Deutschland bietet. Im Gegenzug erwarten wir allerdings von der Politik Vertrauensschutz als Grundlage unserer Wettbewerbsfähigkeit.“
Auf Podium III diskutierten ferner: Dr. Willem Huisman, Vorsitzender des Vorstands, Dow Deutschland Inc.; Katherina Reiche, Staatssekretärin a.D., Geschäftsführendes Präsidialmitglied, Verband kommunaler Unternehmen e.V.; Dr. Johannes Lambertz, Konzernbevollmächtigter für die Energiewende, RWE AG; Julien Mounier, Geschäftsführer, Veolia Deutschland GmbH; Manfred Schmitz, Vorsitzender des Vorstands, ENGIE Deutschland AG; Moderator: Dr. Utz Tillmann, Hauptgeschäftsführer, Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI)
Podium IV rückte das Thema „Mobilität 4.0 –Zukunft von Mobilität und Infrastruktur“ in den Fokus: Alexander Dobrindt, MdB Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, unterstrich die guten Voraussetzungen Deutschlands für eine digitalisierte Industrie. Als führender Industriestandort könne Deutschland auch künftig Innovationstreiber der Industrie 4.0 sein. „Dazu muss aber endlich Schluss sein mit der Technologiefeindlichkeit“, forderte Dobrindt. „Wir stehen an der Schwelle zur digitalen Wirtschaft. Dem Wettbewerb müssen wir uns auch mit mehr digitalem Selbstbewusstsein stellen.“
Christian Lindner MdL Bundesvorsitzender der FDP, wies auf den schlechten Zustand der öffentlichen Infrastruktur in Deutschland hin. Trotz absolut steigender Ausgaben für die Infrastruktur sinke die Investitionsquote. „Ich schlage konkret vor, dass wir Ausbau und Erhalt der Infrastruktur als Staatsziel verankern“, sagte Lindner. Der FDP-Vorsitzende kritisierte zudem den seiner Ansicht nach schleppenden Ausbau der digitalen Infrastruktur und sprach sich für ein „Digitalministerium“ aus, bei dem alle Fäden der Querschnittsaufgabe Digitalisierung zusammenlaufen.
Vincent Pang, President of Huawei’s Western European Region, Huawei Technologies, machte deutlich, dass nahezu sämtliche Industrien von der Digitalisierung betroffen sind. Die digitale Infrastruktur müsse deshalb rasch in Richtung 5G-Netze ausgebaut werden, um den Anforderungen von Industrie 4.0 gerecht zu werden, betonte Pang, um für neue digitale industrielle Dienstleistungen zu ermöglichen.
Es diskutierten auf Podium IV außerdem: André Schwämmlein, Geschäftsführer, FlixBus; Jochen Rudat, Country Director, Tesla Motors; Dieter Althaus Ministerpräsident a.D., Vice President, Magna Europe; Jo Taylor, Head of Europe, Middle East and Africa, Ontario Teachers’ Pension Plan; Frank Sportolari, Generalbevollmächtigter, United Parcel Service Deutschland; Moderator: Dieter Becker, International Head of Automotive, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
In der Diskussion unter der Moderation von Dr. Alexander Bode, Bundesvorsitzender, Junger Wirtschaftsrat, erörterten die Teilnehmer die Frage, wie technologieoffen Deutschland ist: „Pioniergeist oder Fortschrittsverweigerer?“. Zum Thema äußerten sich: Christian Struwe Policy, Lead Europe, DJI Innovations; Dr. Christoph Löwer, Hauptgeschäftsführer, Wirtschaftsverband Erdöl- und Erdgasgewinnung e.V.; Dr. Andreas Spengel, Mitglied der Geschäftsleitung, Mastercard Deutschland; Max Müller, Chief Strategy Officer, DocMorris N.V.; Georg Stecker, Sprecher des Vorstands, Deutsche Automatenwirtschaft e.V.; Fabien Nestmann General Manager, Uber Germany
Bei der Abendveranstaltung des Wirtschaftstages standen die Reden der Bundeskanzlerin und des Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG im Mittelpunkt.
Dr. Dieter Zetsche,
Vorsitzender des Vorstands, Daimler AG, beleuchtete die Zukunft der Automobilindustrie und den Wandel der Automobilhersteller zu Mobilitätsdienstleitern. „Wer die Chancen der Digitalisierung nutzt, ist klar im Vorteil“, betonte Zetsche. „Die Zukunft der Mobilität wird ganz maßgeblich von der Digitalisierung geprägt. Die Digitalisierung bietet uns allen sensationelle neue Möglichkeiten.“
Dr. Angela Merkel MdB, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, beleuchtete das Thema Ordnung und Verantwortung: Soziale Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt: „Die Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union ist noch nicht darauf abgestellt, alleine die Sicherheit in unserem Gebiet zu gewährleisten. Deshalb ist es gut, dass wir in einem transatlantischen Bündnis verankert sind, in dem wir gemeinsam für diese Sicherheit sorgen. Aber ganz gewiss heißt das auch, dass ein Land wie Deutschland, das heute 1,2 Prozent des BIP für Verteidigung ausgibt, und ein Land wie die USA, die 3,4 Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben, sich werden annähern müssen. Es wird auf Dauer nicht gutgehen, dass wir darauf hoffen, dass andere unsere Verteidigungslasten tragen.“
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